Schneekind
dunklen Holzboden hob sich ein weißer Teppich ab, dasselbe Muster, dieselbe Größe, derselbe Glanz. Er war das Negativ des anderen.
„Wir haben die Teppiche zur Hochzeit bekommen, damals war ich gerade mal 22“, sagte Christa mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck. „Ich habe den schwarzen bekommen, Friedrich den weißen.“
Sie nickte, bevor sie fortfuhr: „Damals fand ich das seltsam, doch heute weiß ich, es war richtig so. Es ist wie bei Yin und Yang.“
„Yin und Yang?“ Ich sah sie aufmerksam an. „Das sind doch Symbole für das Männliche und Weibliche, oder? Für das Gute und das Böse?“
„Im Prinzip ja“, sagte sie und verfiel in den Ton von Menschen, die sich intensiv mit einer Sache beschäftigt haben. „Die chinesische Lehre ist jedoch ziemlich komplex.“
Christa begann, eine Decke neu zu arrangieren, und erklärte: „Yin und Yang sind Gegensätze rhythmischer Art, sie sind immer in Bewegung, einmal tritt das eine hervor, dann wieder das andere. Im Grunde ist es das Geheimnis jeder Schöpfung.“ Sie nickte zufrieden.
„Es ist aber auch das Prinzip der ewigen Wiederkehr“, fügte sie plötzlich traurig hinzu.
„Ich bin jetzt 68“, lächelte sie zerstreut, „und frage mich, ob man am Ende wieder dort ankommt, von wo man aufbrach.“
Ich nickte höflich, obwohl ich nicht genau verstand, wovon sie sprach. Nur dass ihr Schmerz eine Ursache hatte, das verstand ich.
„Wie gesagt, alles ist in Bewegung ...“
„Davon halte ich gar nichts!“, lachte jemand hell.
Entgeistert starrte ich auf die strahlende Frau, die durch die Tür auf uns zukam. Sie trug ein helles, eng anliegendes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt, der mit Glitzersteinen besetzt war, dazu dieses elfenhafte Lachen, das mich an etwas erinnerte, was ich vergessen hatte. Sie stellte sich hinter Christa und schlang beide Arme um sie.
„Gut ist gut und böse bleibt böse“, sagte sie und funkelte mich aus ihren blauen Augen an, während sie Christa einen Kuss auf die Wange drückte. „Nur bei der Schönheit, das gebe ich zu, da hat man Gestaltungsmöglichkeiten.“
Wir lachten.
Sie reichte mir ihre Hand über Christa hinweg und sagte: „Ich bin Sylvia, Alex’ Schwester. Freut mich sehr, dich kennenzulernen.“
Im Vergleich zu Sylvia wirkte Alex fast ein wenig provinziell, stellte ich zu meiner Beruhigung fest. Denn die mondäne Perfektion, die Sylvia ausstrahlte, ließ eine kalte, egoistische Persönlichkeit vermuten. Als sie erzählte, dass sie plastische Chirurgin sei, fühlte ich mich bestätigt und suchte ihr Gesicht nach Nähten, Löchern und Erhebungen ab. Doch ich fand nichts. Weder die Künstlichkeit ihrer glatten Stirn noch die Dekadenz ihres polierten Teints konnten ihre Schönheit schmälern. Sylvia war zeitlos schön wie ein Gemälde von Botticelli, der Aufgang der Sonne in den Bergen oder ihr Untergang über dem Meer. Als sie erzählte, dass sie – mit 41 Jahren – bereits ihre eigene Klinik am Bodensee eröffnet habe, dachte ich, sie sei zwar schön, aber materialistisch reduziert. Jeden Monat operiere sie dort Kinder, fuhr Sylvia fort, die in Kriegsgebieten entstellt worden seien. Unentgeltlich. Da war ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, was den Materialismus betraf. Als sie dann noch erzählte, sie nehme sich so oft frei, wie sie nur könne, um nach Sigmaringen zu ihren Pferden zu fahren, hatte sie mich längst für sich eingenommen. Es waren also ihre Pferde, die im Stall standen.
Während Sylvia all das erzählte, starrte ich in eine Ecke des Wohnzimmers, in der sich im Halbdunkel ein Weihnachtsbaum verbarg. Das Ungetüm reichte bis unter die Decke und schien üppig mit Kugeln in allen Größen und Farben geschmückt zu sein. Auf dem Kamin lagen ein paar Geschenke. Zu meiner Beruhigung stellte ich fest, dass der Anblick des Weihnachtszimmers nichts in mir auslöste.
Christa schloss die Tür wieder, als wären Sylvia und ich Kinder, denen man noch keinen Einblick ins Weihnachtszimmer geben durfte. Oder mein angespannter Blick hatte sie daran erinnert, was ihr Sohn am Telefon über seine Verlobte erzählte: „Anne hat leider ein Problem mit Weihnachten, nichts Schlimmes, aber sie fühlt sich nicht ganz wohl dabei, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ihre Eltern sich haben scheiden lassen.“
„Und das ist mein Reich.“ Mit plötzlich verjüngten Zügen trat Christa über die Schwelle in einen Raum, in dem es brodelte und zischte, bunte, zum Teil grelle Farben, wuchernde Formen
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