Schneekind
Ausstrahlung eines Kirchenmannes. Nicht die eines Mönchs, der gemütlich Wein trinkt, sondern die eines Kardinals, der mit zusammengepressten Lippen und Händen weitreichende Entscheidungen fällt. Sein Gesicht war streng, seine Figur diszipliniert. Üppig waren nur seine Ohrläppchen, die seltsam dick herabhingen. Ich hatte einmal gelesen, dass Menschen mit großen Ohrläppchen eine Veranlagung zum Bösen hätten. Immer, wenn sich die Gelegenheit bot, starrte ich ihn an.
„Vielleicht liegt der Bericht ja auch mittlerweile vor“, sagte Alex. „Ich frage da nicht jeden Tag nach. Letzten Freitag meinte Achim auf jeden Fall, sie wüssten noch nichts.“
Friedrich lächelte mir zu, als er meinen Blick bemerkte. Ich wurde rot.
„Die müssen doch irgendeine Spur haben?“, sagte Sylvia und reichte den Brotkorb herum. „Das Brot ist übrigens köstlich, Mama“, fügte sie hinzu.
„Das stimmt“, bestätigte ich. Ich hatte schon seit Ewigkeiten kein so gutes selbstgebackenes Brot mehr gegessen.
„Die Dresdner Kriminalpolizei scheint sehr gut zu sein“, sagte Alex, nahm ein Brot und biss hinein.
Ich wusste, dass er gleich die Theorie erläutern würde, an die ich nicht glaubte. Alex schien eher nach seiner Mutter zu gehen, stellte ich fest, denn obwohl er dunkelblond war, kam er mir im Vergleich zu seinem Vater vor wie ein rassiger Südeuropäer. Friedrich kam ursprünglich aus Potsdam, hatte er mir heute Mittag bereits dargelegt, er sei damals nur zum Studium nach Tübingen gekommen, weil die medizinische Fakultät einen sehr guten Ruf genoss – den besten Deutschlands, hatte er hinzugefügt. Dann habe er Christa kennengelernt.
„Frau Wächter“, sagte Alex und zum ersten Mal hörte ich den spitzen Ton, mit dem er ihren Namen aussprach, „Frau Wächter befand sich anscheinend in großen finanziellen Schwierigkeiten. Fast 50.000 Euro sei sie in den Miesen gewesen, hat die Polizei herausgefunden, frag mich aber nicht, warum.“
Friedrich wollte etwas einwenden, doch Alex redete weiter: „Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass Frau Wächter vor sechs Jahren schon mal versucht hatte, sich auf spektakuläre Weise das Leben zu nehmen. Mit Sandsäcken an den Füßen sprang sie in die Elbe, doch jemand hat sie beobachtet und gerettet. Deshalb hält die Polizei auch dieses Mal einen theatralischen Suizid für möglich. Die Frau könnte den Zettel ja selbst geschrieben haben, anscheinend gibt es Menschen, die noch den eigenen Tod dazu nutzen, anderen eins auszuwischen.“
„Ein Suizid?“ Sylvia pfiff durch die Zähne. „Aber ausgerechnet so grausam? Ersticken ist keine schöne Todesart, warum hat sie nicht einfach Schlaftabletten ...?“
„Bitte, Sylvia, das gehört nun wirklich nicht hierher“, sagte Christa.
„Suizid!“ Friedrich sah empört aus. „So etwas hätte Dani nie getan.“
Ich hielt die Luft an.
Dani? Es herrschte eisiges Schweigen am Tisch.
„Noch etwas Wein?“, fragte Christa. Sie hielt die grüne Flasche in ihrer kleinen Hand. Ich sah ihre Fingerknöchel weiß hervortreten.
„Natürlich habe ich sie gekannt“, sagte Friedrich. „Ich war ja fast 14 Jahre Chefarzt an der Frauenklinik in Dresden.“ Er sah zu seiner Frau hinüber. „Wir haben sie beide gekannt, nicht wahr, Christa?“
Christa war aufgestanden, den Stapel mit den leeren Tellern in Händen, doch als ihr Name fiel, setzte sie sich wieder. Christa sah blass aus.
„Daniela“, nickte sie.
„Leider mussten wir früher abreisen, sonst wären wir natürlich zu deinem Vortrag geblieben, Alexander“, sagte Friedrich.
Ich starrte Alex verwirrt an. Er untersuchte einen Elch auf seine Echtheit.
„Sie waren am 13. also auch in Dresden?“, fragte ich mit trockenem Mund.
„Nur zwei Tage“, wiegelte Christa ab.
„Daniela Wächter war eine äußerst hilfsbereite Person“, sagte Friedrich und tupfte mit der Stoffserviette über seinen Mund. „Sie hatte es nicht immer leicht im Leben, das arme Ding, das muss man sagen. Als ich ’93 nach Dresden kam, war sie noch nicht Leiterin, aber sie war schon damals eine sehr tüchtige Hebamme.“
Friedrich hielt inne, als erinnerte er sich an etwas: „Dani hat eigentlich schon immer einen tollen Job gemacht.“
„Ich mochte sie nie“, sagte Christa plötzlich. Ihr Gesicht zeigte einen schmerzhaften Zug.
„Kann ich verstehen.“ Sylvia lachte, und es klang wie ein Seufzer.
„Frau Wächter ist uns vor allem deshalb ein Begriff“, räusperte sich Alex jetzt und
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