Schneekind
ausgezehrt. Er wippte beim Telefonieren vor und zurück; früher fand ich das beruhigend, heute erschrak ich, wie verhärmt er dabei aussah.
Alex brauchte Zeit; wenn wir erst wieder in Berlin waren und der Alltag sich einstellte, würde er wieder der Alte werden. Ich legte die Hände auf meinen Bauch. Alex brauchte einfach Zeit, so wie das Kind, das ich in mir trug. Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen; der Schwangerschaftstest heute Morgen war positiv. Ich trug ihn in der Handtasche mit mir herum, um Alex im Flugzeug damit zu überraschen.
Die restlichen beiden Tabletten hatte ich in der Winkekatze versteckt. Sie war in Alex’ Koffer. Ich rechnete aber nicht mit Komplikationen, denn beim Hinflug hatte man ja auch nichts beanstandet.
„Zweimal nach Berlin“, sagte ich am Check-in Schalter. Alex telefonierte noch immer.
Während der Autofahrt zum Flughafen hatten wir kaum gesprochen. Es gab nur diesen einen, kurzen Dialog: „Ich habe das Gefühl, dass Sylvia eine gute Mutter gewesen wäre“, sagte ich, weil ich prüfen wollte, ob er bereits über das Thema sprechen konnte.
„Sylvia?“ Alex’ feine, schmale Hände umklammerten das Lenkrad.
„Deine Schwester“, nickte ich. „Ich glaube, sie hat deinem Vater verziehen.“
„Meine Schwester? Verziehen?“
„Es tut mir so leid für Sylvia, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann.“
„Anne, hör auf!“ Alex weinte die ganze Autobahnfahrt von Reutlingen bis Stuttgart, stumm und verzweifelt. Ich ließ ihn gewähren; mir wurde bewusst, wie sehr er Sylvia liebte.
„Hier, deine Boardingkarte“, sagte ich und hakte mich bei Alex unter, doch er reagierte nicht; sein Arm hing leblos an ihm herab. Schweigend fuhren wir die Rolltreppe nach oben; wir waren viel zu früh. Wir setzten uns auf eine schwarz gepolsterte Bank im Terminal 1 und blickten in die Halle mit der Baumstreben-Konstruktion.
„Wir müssen erst einmal einkaufen, wenn wir landen“, sagte ich. „Morgen ist ja schon wieder Feiertag.“
Alex starrte vor sich hin. Es tat weh, dass er nicht wie sonst seinen Arm um mich legte. Er brauchte Zeit.
Ich beobachtete die Leute unten in der Halle. Sie standen an den Check-in Schaltern, sie liefen hin und her, sie liefen zu zweit oder in Gruppen, manche schneller, andere langsamer. Ameisen, dachte ich, Menschen sind doch kleine Ameisen.
Ich legte meine Hand auf Alex’ Hand. Sie war eiskalt.
Unten in der Halle bewegten sich zwei dunkle Punkte gerader und schneller als die anderen Punkte. Und sie bewegten sich direkt auf uns zu.
„Alex?“, flüsterte ich.
Die beiden Punkte waren Männer. Sie betraten die Rolltreppe, die nach oben führte. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich den einen der beiden erkannte, doch als er auf mich zukam, wusste ich, dass er kein Trottel war.
„Alex“, sagte ich, doch er schien mich nicht zu hören. Nervös fingerte er auf seinem Smartphone herum.
„Was macht der Engler hier?“, fragte ich.
„Frau Steiner?“ Kriminalkommissar Engler blieb vor uns stehen. Der Mann neben ihm wirkte entschieden.
„Es tut mir leid, Frau Steiner“, sagte er dann. „Ich muss Sie bitten, mitzukommen.“
„Mitzu...?“ Hilfesuchend blickte ich zu Alex.
Er kehrte uns den Rücken zu, er war von mir abgerückt, er vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Alex?“
„Ich möchte Sie bitten, unverzüglich mitzukommen“, wiederholte Engler. „Wenn Sie sich weigern sollten oder Gegenwehr leisten, müssen wir Ihnen Handschellen anlegen.“
Der Kommissar berührte mich sanft und bot mir seinen Arm an. Ich hakte mich bei ihm unter, als wäre er mein Geliebter. Zögernd ließ ich mich abführen.
„Alex?“, rief ich noch einmal, nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren.
Als er aufblickte, sah ich es in seinen Augen. Er hatte mich verraten.
11. Kapitel: Monate später
Dienstag, 10. Juni. Nach § 20 des Strafgesetzbuches handelt ohne Schuld, „wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
Schwachsinn schied bei mir aus. Vollrausch und dergleichen auch. Es waren die „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“, kurz SASA, unter die mich das psychiatrische Gutachten klassifizierte. Mein Anwalt sprach von einer tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung.
Seitdem befinde ich mich in einer
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