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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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dem rötlichen, fleischigen Gesicht.
    Lars Jordan unterhielt sich mit einem älteren, distinguierten Herrn. Es war 10.44 Uhr, als Alex zum Aufbruch drängte. Jordan stellte seine Tasse auf einem Stehtisch ab und verließ mit Brigitta den Raum. Ich ging auf den Tisch zu. Jemand schnäuzte sich die Nase, jemand nickt mir zu, Alex wartete mit dem Mantel auf mich; die Tasse war nur zur Hälfte ausgetrunken.
    Die Aussegnungshalle war ein moderner, funktionaler Raum mit einer hohen Holzdecke, von der mehrere Lampen hingen. Die Orgel war schlicht, ebenso das Rednerpult. Der einzige Schmuck waren die Fensterbilder: Es war gebrochenes Glas, das sich bereits zu neuen Mustern zusammengesetzt hatte.
    Auf Alex’ Arm gestützt trat ich ein. Wir durchquerten den quadratischen Raum in der Diagonalen, rechts und links saßen die wenigen Gäste, nach vorne nahm die Anzahl der Stühle in einer Reihe ab. Man saß sich im rechten Winkel gegenüber. Wir gingen auf die beiden Särge zu und setzten uns mit Christa und Sylvia in die erste Reihe. Die Särge waren identisch bis auf den Blumenschmuck, einmal waren es weiße Rosen, einmal rote.
    Gegenüber in der zweiten Reihe erkannte ich Lars Jordan. Ich starrte ihn an. Brigitta bemerkte meinen Blick und sah in das Notenheft. In der letzten Reihe erkannte ich Gerd Engler, die kleine, dicke Person neben ihm schien seine Frau zu sein.
    Als der Mann an der Orgel zu spielen begann, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Pfarrer Bisinger nickte mir zu, bevor er seine Stimme erhob.
    „In mir ist es finster“, hörte ich, „aber in dir ist das Licht. Ich bin einsam, aber du ...“
    Ich starrte auf den weißen Sarg. Die Stimme des Pfarrers drang immer leiser an mein Ohr. „Unruhe ... Friede ... Bitterkeit ... Führung“, wehten wie Fetzen an mir vorüber, die der Wind forttrug.
    Luka. Hatte es eigentlich eine Totenmesse für Luka gegeben? Was haben sie mit ihm gemacht? Wen konnte ich noch fragen? Karin wohnte nicht mehr in Dresden, nach monatelanger Recherche fand ich heraus, dass die Hebamme 2006 nach Frankreich gezogen war, in die Nähe von Paris, wo ich für kommenden Februar einen Urlaub geplant hatte. Was hatte meine Mutter für ihr Enkelkind entschieden? Haben sie sie überhaupt gefragt? Tim. Sollte ich auch ihn aufsuchen? All die Jahre dachte ich, ich sei damals wegen eines Magendurchbruchs im Krankenhaus gelegen. An die Schwangerschaft erinnere ich mich bis heute nicht. Nur dass ich zugenommen hatte und mein Bauch schlaffer war als zuvor, darüber war ich sehr unglücklich; ich dachte aber, das käme vom langen Liegen.
    Ich starrte ihn an. Lars Jordan hatte sich erhoben. Er ging auf das Rednerpult zu. Er wollte eine Laudatio auf Friedrich halten. Während er sich räuspert, überlegte ich, wie ich ihm später nochmal eine Dosis verpassen konnte.
    „Friedrich war ein großartiger Arzt“, begann er seine Rede. „Aber er war vor allem ein großartiger Mensch. Als Arzt hat er so vielen Menschen das Leben ge…“
    Er räusperte sich wieder und versuchte es abermals: „Ge…“
    Seine Rede brach ab.
    Ich starrte auf seinen Mund.
    „Das Leben geschenkt“, wiederholte er und griff sich mit beiden Händen an den Hals.
    In der Halle blieb es merkwürdig ruhig. Anscheinend war man sich unschlüssig, ob Lars Jordan – für den Friedrich wie ein Vater gewesen war – gleich vor Ergriffenheit zu schluchzen beginnen würde. Erst als sich sein Griff und sein Gesicht verzerrten, schrie eine Frau auf, die nicht Brigitta war. Als Lars Jordan sich am Pult festkrallte, brach ein Tumult aus. Als das Pult zusammen mit Jordan auf die grauen Fliesen der Aussegnungshalle knallte, rannten die Leute panisch ins Freie.
    Als Jordan mit blauem Gesicht aus der Halle getragen wurde, wusste ich, dass auch die Hälfte der Dosis tödlich wirkte. Ich blickte auf die Uhr. Es war 11.24 Uhr.

10. Kapitel: 31. Dezember
    Am Flughafen Stuttgart hatte man bereits begonnen, die Weihnachtsdekoration zu demontieren. Eine Sternenkette lag erloschen am Boden. In einem Laden wurden Weihnachtsmänner zum halben Preis angeboten, ernüchternd wie die letzten Gäste am Morgen. Die Gesichter der Menschen hatten ihren Glanz verloren; ich sah Männer und Frauen in dunklen Anzügen und ständiger Bereitschaft, sie telefonierten oder tippten etwas in ihre Smartphones. Auch Alex stand abseits und telefonierte.
    Der Vorfall auf der Beerdigung hatte ihn stark verändert. Plötzlich wirkte er nicht mehr schlank, sondern

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