Schneekind
privaten Fachklinik für Psychiatrie und blicke von meinem Zimmer auf das Schloss Charlottenburg hinaus. Im Klinikpark steht ein Kirschblütenbaum. Manchmal denke ich an das Schloss in Sigmaringen zurück. Im Vergleich zu dem preußischen Schloss Charlottenburg, das unerschütterlich auf festem Boden steht, schwebt es in meiner Erinnerung direkt über dem Abgrund. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass „unter Gesamtwürdigung der Täterin und der Tat keine weitere Gefährlichkeit“ von mir ausgehe. Deshalb gab man dem Antrag auf eine Privatklinik statt; der normale Maßregelvollzug bleibt mir so erspart, zumindest für die Zeit meiner Schwangerschaft.
Mittlerweile bin ich in der 27. Schwangerschaftswoche. Meine Tage und Wochen hier sehen immer gleich aus. Dienstags und freitags von 9 bis 11 besucht mich Frey. Seine Stimme wirkt wohltuend auch auf den Kleinen, ich spüre, wie er dann ganz ruhig wird. Bei den Sitzungen mit Frey vermisse ich vor allem den Stuck an der Decke, den ich all die Jahre zuvor in seiner Wohnung studiert habe. Seit ich hier bin, habe ich angefangen, zu schreiben. Frey riet mir, alles aufzuschreiben, mich möglichst an jedes Detail zu erinnern. Das habe ich die letzten Monate getan; jeden Abend, wenn sich der Park draußen verdunkelte, habe ich mich an den kleinen Schreibtisch gesetzt und geschrieben. Auch heute sitze ich wieder hier, doch die Energie, mit der ich anfangs geschrieben habe, lässt langsam nach.
Ich habe alles gesagt. Die Geschichte ist fast fertig.
Alex besucht mich immer sonntags um 16 Uhr. Obwohl ich als harmlos gelte, dürfen wir uns nur im Besucherraum sehen, der überwacht wird. Getränke werden vom Personal bereitgestellt. Wir sitzen uns immer an einem weißen Tisch gegenüber, manchmal halten wir uns an den Händen und ich weine. „Warum hast du es mir nicht gesagt?“, fragte Alex anfangs immer. „Wir hätten eine Lösung gefunden“, meinte er. Mittlerweile fragt er das nicht mehr.
Sylvia kommt alle vierzehn Tage nach Berlin, um mich zu besuchen. Sie nimmt sich viel Zeit für mich. Bisher haben wir noch nicht darüber gesprochen, weil der Raum ja überwacht wird, aber wenn wir uns in die Augen blicken, sehe ich ihre Dankbarkeit. Ich wäre ja ohnehin verurteilt worden. Sylvia hingegen steht mitten im Leben; ihr hätte niemand geglaubt, unzurechnungsfähig gewesen zu sein. Aber warum hat sie es getan? Ich bin mir sicher, eines Tages wird sie es mir erzählen.
Christa ist nicht zum Prozess erschienen. Wenn ich Alex frage, wie es ihr geht, sagt er nur: „Den Umständen entsprechend.“ Schloss Albstein stehe zurzeit zum Verkauf, Christa wolle in eine kleinere Wohnung umziehen. „Mit Karl Anton?“, fragte ich. Alex nickte.
Gerd Engler war nach dem Prozess noch einmal zu mir gekommen. Er könne verstehen, sagte er mit vor Ergriffenheit bebender Stimme, dass mich die Geschichte mit dem Kind mitgenommen habe. Es mache ihn selbst unglaublich wütend, dass so etwas geschehen konnte in Deutschland. Aber trotzdem hätte ich den Rechtsweg gehen müssen.
Nach dem Tod von Friedrich hatte Gerd Engler nicht nur Informationen über Hendrik und Alexander eingeholt, sondern auch über mich. Dass er von meiner ersten Ehe mit Tim Satchmore wusste, hatte er mir ja bereits am 25. Dezember zu verstehen gegeben. Auch die Geburt und der Tod von Luka Satchmore am 24.12.1997 war in den Akten der Kriminalpolizei vermerkt. Noch am 25. hatte Engler die Unterlagen aus dem Krankenhaus in Dresden angefordert, die allerdings erst am 28. in Sigmaringen eintrafen. Weil der Fall mittlerweile als geklärt galt, wanderten sie ungesehen ins Polizeiarchiv. Nach dem Mord an Dr. Lars Jordan wurden sie wieder hervorgeholt. Am Morgen des 31. Dezembers las Engler im Geburtsbericht die Namen Wächter , Marquard und Jordan und zog seine Schlussfolgerungen. Gerd Engler war es, mit dem Alex die ganze Zeit über am Flughafen telefoniert hatte.
Freitag, 4. Juli. Ich bin jetzt in der 30. Woche. Ich kann nur noch auf der Seite liegen, da mir sonst schlecht wird. In Rückenlage drückt das Kind gegen die Nervenbahnen der Wirbelsäule. Es wird wieder ein Junge, habe ich das schon gesagt? Der Geburtstermin ist der 13. September. Samstag, der 13. September. Heute war Frey wieder da. Es war eine frustrierende Sitzung, er glaubt mir nicht mehr, habe ich den Eindruck.
„Lassen Sie uns nochmal über Hendrik Marquard sprechen“, sagte er.
„In Ordnung“, sagte ich. Seitdem ich hier drin bin, versuche ich, mich so
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