Schneekind
sie, Anne schlafe noch, doch dann habe sie sie berührt. Anne sei eiskalt gewesen. Ihr Tod war gegen 1 Uhr nachts eingetreten.
Es war ein Suizid durch Vergiftung. Ein innerer Erstickungstod. Auf Annes Nachttisch wurde eine leere Packung Tabletten gefunden, ohne Aufschrift, nur mit einem Totenkopf versehen. Daneben lagen ihr Tagebuch und ein Brief, ein japanischer Glücksbringer winkte unermüdlich. Es war nicht nur ein emotionales, sondern auch ein juristisches Problem, wie das tödliche Gift in eine mit allen Sicherheitsvorkehrungen versehene psychiatrische Anstalt gelangen konnte. Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen bereits aufgenommen.
Ich nahm das Tagebuch an mich.
Mein Letzter Wille , stand auf dem Umschlag des Briefes, der auf ihrem Nachttisch lag.
Anne hat ihn in schöner, gut lesbarer Mädchenhandschrift verfasst. Ich schob das Dokument über den Schreibtisch meines Kollegen und Freundes Prof. Dr. Justus Hornig.
„Ich möchte“, las Justus laut, „ich möchte, dass mein Sohn Max nach meinem Tod in die Obhut von Dr. Sylvia Marquard kommt. Sie ist die Schwester von Alexander Marquard, meinem verstorbenen Verlobten und Vater des Kindes. Das ist mein einziger und dringlichster Wunsch.“
Justus machte eine Pause, bevor er den letzten, von Anne doppelt unterstrichenen Satz las: „Sylvia ist eine gute Mutter.“
Justus sah mich an. Seitdem er Leiter dieser Klinik war, hat er nicht nur die bunten Krawatten abgelegt, die er als Student immer trug, sondern auch seine Gefühle. In seiner Position war es ihm einfach nicht mehr möglich, sich derart intensiv auf seine Patienten einzulassen, wie ich es konnte.
„Das entscheiden wir ohnehin nicht, Samuel“, sagte Justus. „Dafür ist das Jugendamt zuständig.“
Er sah höflich an mir vorbei, als ich mit dem Taschentuch über meine Augen fuhr.
„Spräche denn etwas dagegen?“, fragte er und warf einen abermaligen Blick auf den Brief. „Gegen diese Sylvia Marquard?“
Ich nickte. Meine Stimme zitterte, als ich sagte: „Ja.“
Ich starrte auf die weiß getünchte Wand und erklärte es ihm: „Alexander Marquard hat gar keine Schwester.“
Justus schwieg.
„Sylvia war eine, wie soll ich es sagen, eine Projektion von Frau Steiner. So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
Justus blickte auf die Uhr und beschloss, sich Zeit zu nehmen, nicht allein aus freundschaftlichen Gründen, sondern auch aus Pflichtgefühl. Wenn sich ein Patient umbrachte, war ein Metagespräch unumgänglich. Also verschob er seine Visite um 20 Minuten und bestellte grünen Tee.
„Eine Projektion sagst du.“ Justus roch an dem dampfenden Getränk, legte seinen Kopf schief und forderte mich damit auf, zu erzählen.
„Nenne es, wie du willst“, begann ich und drehte die weiße Schale in meinen Händen. Ich mag eigentlich keinen Tee. „Projektion, Halluzination, Ichspaltung, Verdoppelung der Persönlichkeit ... Ich weiß es doch auch noch nicht.“
Justus nickte.
„Ich habe lange gebraucht, um mir überhaupt darüber klar zu werden, weil es sich bei dieser Projektion nicht um eine reine Abwehr handelte.“
Justus nickte wieder.
„Meist sind es ja Qualitäten, Gefühle und Wünsche, die der Patient an sich selbst ablehnt oder in sich selbst verleugnet, die er auf andere Personen projiziert, im Extremfall auf eine erfundene Person.“ Ich nahm einen Schluck Tee. Das Zeug schmeckte nach Heu. „Das heißt, Probleme macht uns nicht das Gute, das man gerne mit dem eigenen Ich in Einklang bringt, sondern das Andere, das Unerwünschte.“
Justus nickte. Das alles war ihm nichts Neues.
„Bei Anne war das aber nicht eindeutig. Sie flüchtete vor Sylvia nicht, wie das in der phobischen Vermeidung der Fall ist“, sagte ich.
Dann überlegte ich laut: „War Sylvia deshalb so toll, weil Anne einen Grund brauchte, sich selbst zu lieben?“ Ich nickte zaghaft: „Das ist es. Anne wollte sich weiterhin im Spiegel in die Augen blicken können. Auch nach den grausamen Taten, die sie begangen hat.“
Justus hörte mir immer noch zu.
„Anne hat immer so plastisch, so überzeugend von Sylvia gesprochen. Doch es gab ein paar Details, die mich hellhörig gemacht haben. Zum Beispiel beschrieb sie Sylvia nach dem Bild einer Schauspielerin, die auf sie Eindruck gemacht hat. Manchmal sprach sie auch davon, dass sie allein war, wenn sie mit Sylvia zusammen war.“ Wieder nahm ich einen Schluck Tee, bevor ich fortfuhr: „Ich habe sogar bei Christa
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