Schneekind
Marquard angerufen, der Mutter von Alexander, um sicherzugehen. Christa Marquard bestätigte meinen Verdacht. Sie habe zwei Söhne gehabt, versicherte sie. Eine Tochter habe niemals existiert.“
Justus kratze sich jetzt am Kopf. Er hatte keine Haare mehr, aber die Glatze stand ihm gut.
„Sylvia war im Prinzip all das, was Anne sich jemals gewünscht hat“, erklärte ich. „Anne hat ihr Studium abgebrochen, darunter litt sie lange, aber Sylvia war promovierte Ärztin. Anne nahm sich immer als dick war, Sylvia hingegen als gertenschlank.“
„Lag eine Essstörung vor?“, fragte Justus.
Ich nickte. „Vor der Schwangerschaft wog Anne 49 Kilo bei einer Größe von 1,73 Meter. Doch sie empfand sich als zu dick. Wenigstens versuchte sie nicht, während der Schwangerschaft zu hungern. Sie nahm normal zu. Ich wusste, dass es Anne grundlegend an Selbstvertrauen gefehlt hat“, sagte ich, „aber was dann an Weihnachten geschah, war einfach nicht ... vorhersehbar ...“ Ich rieb mir die Nasenwurzel. „Anne erfüllte kein einziges der Kriterien, die auf eine kriminelle Tat hätten schließen lassen.“
Warum hatte ich sie nur so falsch eingeschätzt?
Justus nickte mitfühlend. Anne Steiner war eine auffallend attraktive Frau gewesen. Das machte die Sache immer schwieriger.
„Aber es waren nicht nur äußere Merkmale“, redete ich weiter. „Anne schrieb Sylvia ein ähnlich traumatisierendes Erlebnis zu, wie sie selbst es erlebt hatte: Auch Sylvia war von Friedrich Marquard nicht richtig medizinisch versorgt worden, doch Sylvia hatte das Geschehen verarbeitet. Sylvia war fähig gewesen, zu verzeihen. Sylvia liebte ihren Vater. War es letztlich nicht das, was Anne sich gewünscht hat?“
Ich erstarrte. Meine Theorie hatte einen Haken. Anne behauptete ja bis zuletzt, Sylvia habe Hendrik umgebracht. Hatte sie die Sylvia-Figur am Ende nur deshalb erfunden, um ihr den Mord an Hendrik in die Schuhe schieben zu können?
Anne wusste, dass sie mit dem Mord an Hendrik eine Grenze überschritten hatte, die sie zu einer kaltblütigen Mörderin machte. Es ging hier nicht mehr um das Kind, um ihr Trauma, sondern um die Rettung ihrer eigenen Haut. Hendrik hat ja nicht Sylvia, sondern Anne beobachtet, wie sie das Gift in die Plätzchen spritze. Der Mord an Hendrik war geplant. Da ist Anne gierig geworden.
„Samuel?“
Ich starrte Justus an.
„Du weißt, Samuel, dass ich in solchen Fällen eher von einer angeborenen, primären assoziativen Schwäche ausgehe“, sagte Justus. „Nach all dem, was du erzählst, Samuel, ist für mich der Fall klar. Frau Steiner fehlte genetisch bedingt die Kraft zur psychischen Synthese. Unter Stress – das traumatische Geburtserlebnis, die erneute Geburt – konnte sie ihre assoziative Schwäche nicht mehr kompensieren. Am Ende blieb ihre psychische Welt als eine zerstückelte zurück.“ Justus nickte sich selbst zu und machte sich schnell ein paar Notizen für den Bericht, den er schreiben musste.
Ich wusste, was Justus damit sagen wollte: Schizophrenie. Diese Diagnose sagte alles und nichts, Justus kannte meine Meinung dazu, doch das war eine Diskussion, die ohnehin nur von theoretischer Relevanz war.
„Du meinst also eine genetische Veranlagung zum Unglücklichsein?“, sagte ich nur.
„Wenn du es so poetisch ausdrücken willst.“ Justus blickte fragend auf. Seine Sekretärin war eingetreten. „Was ist denn, Lena?“
„Eben hat eine Frau Marquard angerufen.“ Lena Salms, seit 20 Jahren Chefsekretärin der Klinik, war routiniert im Umgang mit menschlichen Extremen, doch ihr Gesicht zeigte dennoch eine gewisse Beklemmung, als sie sagte: „Sie war, nun ja, wie soll ich sagen, ziemlich außer sich wegen ...“
Justus nickte. Ein Suizid war immer eine prekäre Geschichte, viele Angehörige drohten, die Klinik zu verklagen. Die meisten beließen es bei der Drohung. Nur wenige waren an einem Gespräch interessiert, bei dem sie Antworten erwarteten, die auch Professor Hornig nicht geben konnte. Woher hatte Anne Steiner das Gift?
„Christa Marquard hat angerufen?“, fragte ich ungläubig.
„Nein“, erwiderte sie. „Eine Frau Nadine Marquard. Sie sagt, sie sei die Witwe von Alexander Marquard und habe ein Recht auf das Kind.“
Eine halbe Stunde später empfing ich Nadine Marquard im Besucherzimmer.
Ich sagte: „Frau Marquard, es tut mir leid, dass …“
„Wo ist das Kind“, schnitt sie mir das Wort ab.
Ich hatte Verständnis. Als Annes Therapeut musste ich mit der
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