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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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warum ich Ihnen derart private Sachen anvertrauen soll, solange ich nichts Böses getan habe.”
    “Jetzt hören Sie mir mal genau zu, Becker. Ich halte Sie weder für den Schneemann noch für den Mörder von Camilla Lossius. Und ich glaube, Sie sind ein rational denkender Mensch, der versteht, dass es ihm weniger schadet, mir hier und jetzt diese privaten Dinge anzuvertrauen, als morgen in der Presse zu lesen, dass Professor Filip Becker unter dem Verdacht festgenommen wurde, Norwegens Serienmörder Nummer eins zu sein. Sie wissen doch ebenso gut wie ich, dass man diese Schlagzeilen für immer mit Ihrem Namen in Verbindung bringen wird, auch wenn Sie schon übermorgen wieder aus der Haft entlassen werden sollten. Und auch an Ihrem Sohn wird es hängenbleiben.”
    Harry sah Beckers Adamsapfel an seinem unrasierten Hals auf und ab gehen. Sah, wie sein Hirn die notwendigen Schlussfolgerungen zog. Die einfachen Schlussfolgerungen. Und dann kam es, mit einer gequälten Stimme, die Harry zuerst der ungewohnten Zigarette zuschob:
    “Birte, meine Frau, war eine Hure.”
    “Tatsächlich?” Harry versuchte, seine Überraschung zu verbergen.
    Becker legte die Zigarette auf den Betonboden, beugte sich vor und fischte ein schwarzes Notizbuch aus seiner Gesäßtasche. “Das habe ich am Tag ihres Verschwindens gefunden. Es lag in ihrer Schreibtischschublade, sie hat es nicht einmal versteckt. Auf den ersten Blick sieht es ja auch ganz normal aus. Alltägliche Notizen und Telefonnummern. Nur dass es diese Telefonnummern gar nicht gibt, wie ich über die Auskunft herausgefunden habe. Das waren Codes. Aber meine Frau war leider nicht besonders geschickt im Chiffrieren, ich habe nicht einmal einen Tag gebraucht, um auf die Lösung zu kommen.”
     
    Erik Lossius war Besitzer und Geschäftsführer eines Umzugsunternehmens. Er hatte sich in der ansonsten wenig lukrativen Branche mithilfe von Festpreisen, aggressivem Marketing, billigen ausländischen Arbeitskräften und Vorkasse mit Erfolg positioniert. Bis jetzt hatte er noch nicht bei einem Kunden draufgezahlt. Dabei war sicherlich auch hilfreich, was im Kleingedruckten seiner Verträge stand: Alle Klagen wegen Transportschäden oder Diebstahls mussten innerhalb von zwei Tagen nach Lieferung erfolgen. In der Praxis führte das dazu, dass neunzig Prozent der relativ zahlreichen Klagen zu spät eingereicht und damit abgewiesen wurden. Was die restlichen zehn Prozent betraf, hatte Erik Lossius eine gewisse Routine entwickelt, sich unerreichbar zu geben oder den üblichen Rechtsweg zu beschreiten. Der war so mühsam, dass sogar Leute mit zertrümmerten Klavieren oder spurlos verschwundenen Plasmabildschirmen zu guter Letzt aufgaben.
    Erik Lossius hatte als junger Mann beim früheren Besitzer des Unternehmens begonnen, einem Freund seines Vaters.
    “Der Junge ist zu ruhelos, um weiter zur Schule zu gehen, und zu klug, um Hilfsarbeiter zu werden”, hatte sein Vater damals argumentiert. “Kannst du ihn nicht nehmen?”
    Als Verkäufer auf Provisionsbasis zeichnete sich Erik rasch durch seinen Charme, seine Effektivität und seine Brutalität aus. Er hatte die braunen Augen seiner Mutter und die dichten Locken seines Vaters geerbt und war athletisch gebaut, so dass zumindest die meisten Frauen gleich an Ort und Stelle unterschrieben, ohne weitere Angebote einzuholen. Und er konnte schnell und gut mit Zahlen umgehen und entsprechend taktieren, wenn er in seltenen Fällen um Kostenvoranschläge für größere Aufträge gebeten wurde. Dann setzte er die Preise tief und den Selbstbehalt der Kunden bei Schaden oder Verlust hoch an. Nach fünf Jahren erwirtschaftete die Firma einen soliden Gewinn, und Erik war in fast allen Geschäftsbereichen die rechte Hand des Chefs. Eines Tages, bei einem recht einfachen Transport unmittelbar vor Weihnachten - sie wollten einen Schreibtisch in Eriks neues Büro in der zweiten Etage, neben dem seines Chefs, hinauftragen -, erlitt der Firmeninhaber einen Herzinfarkt und fiel tot um. In den folgenden Tagen tröstete Erik die Witwe, so gut es ging - auf so etwas verstand er sich bestens -, so dass sie sich eine Woche nach der Beerdigung auf eine beinahe symbolische Übernahmesumme einigten, die widerspiegelte, dass es sich schließlich um einen “kleinen Betrieb in einer wenig lukrativen Branche mit hohem Risiko und nicht existierenden Gewinnmargen” handelte, wie Erik es formulierte. Er beteuerte, es gehe ihm in erster Linie darum, das Lebenswerk ihres

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