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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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jetzt erkennen. “Na, im Bett natürlich. Um diese Uhrzeit liegen doch wohl alle kleinen Jungs im Bett.” Seine Stimme hob und senkte sich, als zitiere er ein Lied.
    Harry griff in die andere Jackentasche und holte die Handschellen heraus. “Strecken Sie die Hände aus”, bat er.
    Becker blinzelte wieder.
    “Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit”, erklärte Harry.
    Das war eine eingeübte Replik, ein Satz, den man ihnen bereits auf der Polizei schule eintrichterte und mit dem die Arrestanten erst einmal beruhigt werden sollten. Doch als sich Harry das sagen hörte, kapierte er plötzlich, warum er in die Schusslinie getreten war. Und das hatte nichts mit Gespenstern zu tun.
    Becker streckte Harry seine Hände entgegen wie ein Betender, und der Stahl schloss sich um seine schmalen, haarigen Handgelenke.
    “Bleiben Sie sitzen”, befahl Harry. “Meine Kollegin wird auf Sie aufpassen. “
    Harry stand auf und ging zur Tür. Katrine hatte den Revolver sinken lassen und lächelte ihn mit einem seltsamen Schimmer in den Augen an. Als würde da drinnen ein verstecktes Feuer glühen. “Bei dir alles okay?”, erkundigte sich Harry leise. “Katrine?” “Natürlich”, lachte sie.
    Harry zögerte. Dann ging er zur Treppe und begann sie hinaufzusteigen. Er erinnerte sich, wo das Kinderzimmer von Jonas war, öffnete aber trotzdem zuerst die anderen Türen. Als wollte er es hinausschieben. In Beckers Schlafzimmer brannte kein Licht, aber er konnte das Doppelbett ausmachen. Auf der einen Seite war das Bettzeug entfernt worden. Als wüsste Filip Becker bereits, dass sie niemals mehr zurückkommen würde.
    Dann stand Harry vor Jonas’ Zimmer. Er versuchte seinen Kopf von allen Gedanken und Bildern zu leeren, ehe er die Tür öffnete. Eine leise Abfolge von schiefen Tönen drang an sein Ohr, und obgleich er nichts sah, wusste er, dass der Luftzug der Tür ein kleines Glockenspiel aus dünnen Metallröhren in Bewegung gesetzt hatte. Oleg hatte auch so eines an der Zimmerdecke hängen. Harry trat ein und sah etwas oder jemand unter der Decke im Bett. Er lauschte auf ein Atemgeräusch, hörte aber nur den Nachhall der Töne, die nicht verklingen wollten. Er legte die Hand auf die Decke. Einen Augenblick war er vor Angst wie gelähmt. Obwohl nichts in diesem Raum eine physische Gefahr für ihn darstellte, wusste er, wovor er Angst hatte. Weil sein früherer Chef Bjarne Moller das einmal für ihn formuliert hatte: Er hatte Angst vor seiner eigenen Menschlichkeit.
    Vorsichtig zog er die Decke von dem Körper, der dort lag. Es war Jonas. Im Dunkeln sah es wirklich so aus, als schliefe er. Abgesehen von den Augen, die weit geöffnet waren und an die Decke starrten. Harry bemerkte ein Pflaster auf seinem Unterarm. Dann beugte er sich über den halbgeöffneten Mund des Jungen, während er ihm eine Hand auf die Stirn legte. Er zuckte zusammen, als er spürte, dass die Haut warm war und ein Luftstrom über sein Ohr strich. Und dann hörte er die schlaftrunkene Stimme murmeln: “Mama?”
    Harry war vollkommen unvorbereitet auf seine Reaktion. Vielleicht weil er an Oleg dachte. Oder an sich selbst, wie er als kleiner Junge in der Nacht aus einem Traum hoch schreckte und in dem sicheren Glauben, dass sie noch lebte, in das elterliche Schlafzimmer in Oppsal stürmte, wo das Doppelbett aber doch nur auf einer Seite bezogen war.
    Es gelang Harry jedenfalls nicht, die Tränen zurückzuhalten, die ihm plötzlich in die Augen stiegen, bis Jonas’ Gesicht verschwamm. In warmen Rinnsalen liefen sie ihm über die Wangen und sammelten sich in den Falten, die zu seinen Mundwinkeln führten, so dass er sie salzig auf den Lippen schmeckte.
     

TEIL IV 
KAPITEL 20
    17. Tag. Sonnenbrille
    Es war sieben Uhr morgens, als Harry ins Untersuchungsgefängnis kam und sich Zelle 23 öffnen ließ. Becker saß vollbekleidet auf der Pritsche und sah ihn regungslos an. Harry stellte den Stuhl, den er sich aus dem Wachraum mitgenommen hatte, in die Mitte der fünf Quadratmeter, die den Gästen des Präsidiums hier geboten wurden, setzte sich rittlings darauf und hielt Becker seine zerknautschte Schachtel Camel hin.
    “Rauchen ist hier drinnen doch sicher verboten”, meinte Becker.
    “Ich glaube, wenn ich hier mit der Aussicht auf lebenslänglich säße”, kommentierte Harry, “wäre mir das ziemlich egal.” Becker sah ihn bloß an.
    “Jetzt kommen Sie schon, es gibt keinen besseren Ort, um heimlich zu rauchen.”
    Der Professor verzog den Mund zu einem

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