Schneemann
Tragödie, die sich längst abgespielt hatte und bloß noch ihren Abschluss finden musste.
Katrine deutete auf etwas, aber er hatte es bereits gesehen. Direkt hinter der Person lag zwischen einem halbfertigen Puzzle und einem Gameboy eine Pistole, die einem normalen Spielzeug zum Verwechseln ähnlich sah. Eine Glock 21, tippte Harry und spürte die Übelkeit, als sein Körper jäh reagierte und Adrenalin ins Blut abgab.
Sie hatten zwei Möglichkeiten. Entweder sie blieben in der Tür stehen, schrieen Beckers Namen und trugen die Konsequenzen, die es hat, wenn sich ein bewaffneter Mann plötzlich einer Waffe gegenübersieht. Oder sie entwaffneten ihn, bevor er sie bemerkte.
Harry legte Katrine eine Hand auf die Schulter und schob sie nach hinten, während er einzuschätzen versuchte, wie lange es dauern würde, bis Becker sich umgedreht, die Waffe ergriffen, gezielt und abgedrückt hatte. Vier lange Schritte müssten reichen. Außerdem war hinter Harry kaum Licht, so dass er keinen Schatten werfen oder sich auf der Mattscheibe spiegeln würde.
Harry holte tief Luft und setzte sich in Bewegung. Setzte seinen Fuß aufs Parkett, so leise er konnte. Der Rücken rührte sich nicht. Er war mitten im zweiten Schritt, als er den Knall hinter sich hörte. Instinktiv wusste er, dass es die verdammte Vase gewesen sein musste. Er sah die Gestalt herumwirbeln und blickte in das verzerrte Gesicht von Filip Becker. Harry erstarrte, als sie sich in die Augen sahen und der Fernseher hinter ihnen plötzlich schwarz wurde. Beckers Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen. Seine Augen waren von roten Äderchen durchzogen, und seine Wangen waren aufgequollen, als hätte er geweint.
“Die Pistole!”
Es war Katrine, die gerufen hatte. Harry hob automatisch den Blick und sah ihr Spiegelbild auf dem schwarzen Fernseher. Sie stand breitbeinig an der Tür, die Arme nach vorn ausgestreckt, in den Händen einen Revolver.
Die Zeit schien stehenzubleiben und zu einer zähen, unförmigen Materie zusammenzuschmelzen, in der nur die Sinne noch im realen Tempo funktionierten. Ein trainierter Polizist wie Harry hätte sich instinktiv zu Boden werfen und dabei seine Waffe ziehen müssen. Aber es gab noch etwas anderes, etwas, das träger als seine Instinkte arbeitete, jedoch mit größerer Kraft. Harry sollte später seine Meinung ändern, aber in diesem Augenblick glaubte er aufgrund eines anderen Deja-vus zu handeln. Er sah das Bild eines toten Mannes, der von einer Kugel aus einer Polizeiwaffe durchbohrt worden war, weil er am Ende war und nicht weiter gegen irgendwelche Gespenster kämpfen wollte.
Harry trat nach rechts, direkt in Katrines Schusslinie.
In seinem Rücken hörte er ein geöltes, glattes Klicken. Den Laut eines Revolverhahnes, der sich wieder senkte, während sich der Druck des Fingers auf den Abzug löste.
Beckers Hand stemmte sich neben der Pistole auf den Boden.
Die Finger waren an den Knöcheln und am Übergang zur Hand ganz weiß. Was bedeutete, dass er sich mit seinem ganzen Körpergewicht darauf stützte. Die andere Hand - die rechte - umklammerte die Fernbedienung. Wenn Becker, so wie er jetzt saß, mit der rechten Hand zur Pistole griff, würde er das Gleichgewicht verlieren.
“Rühren Sie sich nicht von der Stelle”, befahl Harry laut. Becker blinzelte lediglich zweimal, als wollte er den Anblick von Harry und Katrine verdrängen. Harry trat mit ruhigen, effektiven Bewegungen vor, bückte sich und hob die Pistole auf. Sie war überraschend leicht. Viel zu leicht, um geladen zu sein. Er schob sie zu seinem eigenen Revolver in die Jackentasche und hockte sich hin. Auf dem Fernsehschirm konnte er sehen, dass Katrine noch immer auf sie zielte, dabei aber unruhig von einem Bein auf das andere trat. Er streckte eine Hand zu Becker aus, der wie ein scheues Tier zurückwich, trotzdem gelang es ihm, den Kopfhörer zu ergreifen und Becker von den Ohren zu ziehen.
“Wo ist Jonas?”, fragte Harry.
Becker starrte Harry an, als würde er weder die Situation noch die Sprache verstehen.
“Jonas?”, wiederholte Harry. Dann brüllte er: “Jonas! Jonas, bist du da?”
“Psst”, machte Becker. “Er schläft.” Seine Stimme klang wie die eines Schlafwandlers, als hätte er irgendwelche Beruhigungspillen genommen.
Becker deutete auf den Kopfhörer. “Er darf nicht aufwachen.” Harry schluckte. “Wo ist er?”
“Wo?” Becker legte seinen unförmigen Kopf zur Seite und starrte Harry an, als würde er ihn erst
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