Schneemann

wir damit?”, wiederholte Harry und spürte, dass er ganz heiße Ohrläppchen bekommen hatte.
    “Willst du, dass ich Oleg das von dir gebe?”
    Harry wandte seinen Blick ab, der ganz automatisch an dem Nistkasten hängen blieb, ehe er weiterglitt.
    “Nee, ich mach das wann anders”, lehnte Harry ab und schnitt eine Grimasse, von der er hoffte, dass sie echt aussah. “Geh du mal duschen.”
    “Okay.”
    “Dann bis zum nächsten MaL”
    Als Harry wieder im Auto saß, schlug er mit beiden Fäusten aufs Lenkrad und fluchte laut. Er hatte sich verhalten wie ein Zwölfjähriger, der auf frischer Tat beim Ladendiebstahl ertappt worden war. Hatte Mathias ins Gesicht gelogen. Gelogen und sich dabei gewunden wie das letzte Arschloch.
    Er trat das Gaspedal durch und ließ die Kupplung hektisch kommen, um das Auto zu bestrafen. Er schaffte es einfach nicht, sich jetzt damit auseinanderzusetzen. Musste an etwas anderes denken. Aber es gelang ihm nicht. Immer wieder rasten seine Gedanken wie eine unorganisierte Kette von Assoziationen durch seinen Kopf, während er in Richtung Zentrum fuhr. Er dachte an fehlende Perfektion, an rote, flache Brustwarzen, die aussahen wie Blutflecke auf nackter Haut. Wie Blutflecke auf unbehandeltem Holz. Und aus irgendeinem Grund kamen ihm auch die Worte des Pilzmannes in den Sinn: “Dann bleibt einem nur noch die Möglichkeit, die ganze Wand rot zu streichen.”
    Der Pilzmann hatte geblutet. Harry schloss die Augen halb und stellte sich die Wunde vor. Das musste ja eine ganz schön tiefe Wunde gewesen sein, wenn er so stark geblutet hatte, dass man … dass man nur noch die ganze Wand rot streichen konnte.
    Harry trat auf die Bremse. Er hörte eine Hupe, sah in den Spiegel und erblickte einen Toyota Hiace über den Neuschnee auf sich zurutschen, bis seine Reifen wieder Halt fanden und er ausweichen und an ihm vorbeifahren konnte.
    Harry trat die Tür auf, sprang aus dem Wagen und stellte fest, dass er an der Grasbahn war, dem Sportplatz am Holmenkollveien. Er holte tief Luft und zertrümmerte sein Gedankengebäude, demontierte es, um zu überprüfen, ob es sich wieder zusammensetzen ließ. Tatsächlich baute er es wieder auf, rasch und reibungslos, denn alle Teile fügten sich wie von selbst zusammen. Sein Puls stieg. Wenn diese Theorie wasserdicht war, stellte sie alles auf den Kopf. Und das Ganze stimmte mit dem Plan des Schneemanns überein, in Harrys Leben einzudringen. Er war einfach von der Straße bei ihm hereingeschneit und hatte es sich gemütlich gemacht. Und die Leichen? Seine Theorie konnte auch erklären, wo die Leichen abgeblieben waren. Mit zitternden Fingern zündete sich Harry eine Zigarette an und versuchte zu rekonstruieren, was ihm gerade durch den Kopf geschossen war. Die am Rand verkohlte Hühnerfeder.
    Harry glaubte nicht an Inspiration, an hellseherische Fähigkeiten oder Telepathie. Aber er glaubte an Glück. Nicht das angeborene, sondern das systematische Glück, das man sich dadurch verdiente, dass man hart arbeitete und ein derart feinmaschiges Netz spann, dass die unvermeidlichen Zufälle einem früher oder später auch mal in die Hände spielten. Aber das hier war kein Glück dieser Art. Diesmal war es einfach nur Glück. Untypisches Glück. Wenn er denn recht hatte. Harry sah zu Boden und bemerkte, dass er im Schnee herumstapfte. Dass er sich wirklich - und wahrhaftig - auf dem Boden befand.
    Er ging zurück zum Auto, nahm das Handy und wählte Bjorn Holms Nummer.
    ” Ja, Harry?”, meldete sich eine schläfrige, nasale Stimme, die er fast nicht wiedererkannt hätte.
    “Du hörst dich an, als hättest du ‘n Kater”, sagte Harry misstrauisch.
    “Schön wär’s”, schnaubte Holm. “Eine Scheiß-Erkältung. Ich lieg hier schon unter zwei Decken und frier trotzdem noch. Kopfschmer … “
    “Hör mal zu”, unterbrach ihn Harry. “Erinnerst du dich noch, wie ich dich gebeten habe, die Temperatur der Hühner zu messen, um herauszufinden, wann Sylvia im Stall war und sie geschlachtet hat?”
    “Ja?”
    “Du hast damals gesagt, das eine sei wärmer gewesen als die beiden anderen.”
    Bjorn Holm schniefte. “Ja. Skarre meinte damals, das eine hätte vielleicht Fieber gehabt. Und theoretisch ist das ja auch möglich.” “Ich glaube, es war wärmer, weil es erst nach Sylvias Ermordung geschlachtet wurde, also mindestens eine Stunde nach den anderen.”
    “Oh? Und von wem?” “Vom Schneemann.”
    Harry hörte, wie Holm kräftig den Schleim in der Nase