Schneemann
Sie, was für ein Tag heute ist?”
Stille.
“Werfen Sie mal einen Blick auf die Uhr an der Wand. Können Sie mir sagen, wie spät es ist?”
Als Antwort erntete sie nur einen starren, gehetzten Blick. Kjersti Rodsmoen wartete. Und wartete. Der lange Zeiger der Uhr schob sich in zitterndem Schneckentempo weiter.
Es war hoffnungslos.
“Ich gehe jetzt”, verkündete Kjersti und stand auf. “Es wird jemand kommen und Sie abholen. Sie sind hier in Sicherheit.”
Sie ging zur Tür.
“Ich muss mit Harry sprechen.” Die Stimme war tief, beinahe maskulin.
Kjersti blieb stehen und drehte sich um. “Wer ist Harry?” “Harry Hole. Es eilt.”
Kjersti versuchte, Blickkontakt aufzunehmen, doch die Frau starrte noch immer bloß vor sich hin.
“Katrine, Sie müssen mir schon sagen, wer dieser Harry Hole ist. “
“Hauptkommissar im Morddezernat in Oslo. Und sprechen Sie mich bitte mit meinem Nachnamen an, wenn Sie noch einmal meinen Namen benutzen wollen, Kjersti.”
“Bratt?”
“Rafto.”
“Na gut. Aber können Sie mir nicht sagen, worüber Sie mit Harry Hole reden wollen, damit ich das weitergeben kann … ” “Sie verstehen überhaupt nichts. Sie werden alle sterben.” Kjersti nahm langsam wieder auf ihrem Stuhl Platz. “Ich verstehe. Und warum glauben Sie, dass sie sterben werden, Katrine?”
Endlich bekam sie Blickkontakt. Doch das, was sie sah, ließ sie an eine der roten Monopolykarten in ihrer Hütte denken: Ihre Häuser und Hotels brennen.
“Ihr versteht überhaupt nichts”, sagte die leise maskuline Stimme. “Ich bin es nicht.”
Um zwei Uhr blieb Harry auf dem Weg unterhalb von Rakels Holzvilla am Holmenkollveien stehen. Es hatte aufgehört zu schneien, und er hielt es für dumm, verräterische Reifenspuren auf dem Hof zu hinterlassen. Der Schnee schrie leise und langgezogen unter seinen Stiefeln, und das scharfe Tageslicht blinkte auf den onnenbrillenschwarzen Scheiben, als er sich näherte.
Er ging die Treppe zur Haustür hoch, öffnete die vordere Klappe des Nistkastens, legte Rakels Uhr hinein und schloss sie wieder. Er hatte sich gerade zum Gehen gewandt, als die Tür hinter ihm geöffnet wurde.
“Harry!”
Er drehte sich um, schluckte und versuchte zu lächeln. Vor ihm stand ein nackter Mann, der sich nur ein Handtuch um die Hüften gewickelt hatte.
“Mathias.” Harry starrte betreten auf den Oberkörper seines Gegenübers. “Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Musst du um diese Tageszeit denn nicht arbeiten?”
” Tut mir leid”, antwortete Mathias lachend und verschränkte die Arme vor der Brust. “Gestern Abend war ich ziemlich lange im Dienst. Jetzt feiere ich Überstunden ab. Ich wollte gerade duschen, als ich jemanden an der Tür hörte. Ich dachte, es wäre Oleg, weißt du, sein Schlüssel klemmt manchmal.”
Der Schlüssel klemmt, dachte Harry. Das konnte nur heißen, dass Oleg jetzt den Schlüssel benutzte, den er einmal gehabt hatte. Und dass Mathias Olegs Schlüssel hatte.
“Kann ich dir helfen, Harry?” Harry bemerkte, dass Mathias die Arme seltsam hoch vor der Brust verschränkt hatte, als wolle er etwas verbergen.
“Ach nee, nicht nötig”, lehnte Harry ab. “Ich war nur grade in der Gegend. Ich hab was für Oleg.”
“Warum hast du dann nicht geklingelt?”
Harry schluckte. “Ach, mir ist plötzlich aufgegangen, dass er doch noch in der Schule ist.”
“Ach ja? Wie denn das?”
Harry nickte, als wollte er signalisieren, dass er diese Frage für verständlich hielt. Auf Mathias’ offenem, freundlichem Gesicht war nicht die Spur von Misstrauen zu erkennen, nur der aufrichtige Wunsch, etwas erklärt zu bekommen, was er nicht ganz verstand.
“Der Schnee”, erklärte Harry.
“Der Schnee?”
“Genau. Es hat vor zwei Stunden aufgehört zu schneien, und auf der Treppe sind keine Spuren.”
“Verdammt, Harry”, rief Mathias enthusiastisch aus. “Das nenne ich wirklich eine logische Schlussfolgerung. Kein Wunder, dass du Ermittler bist.”
Harry lachte gequält mit. Mathias’ gekreuzte Arme waren etwas nach unten gesackt, und jetzt sah Harry, was Rakel mit Mathias’ körperlicher Eigenheit gemeint hatte. Wo man eigentlich zwei Brustwarzen erwarten würde, war bloß weiße, glatte Haut.
“Das ist erblich “, erläuterte Mathias, der Harrys Blick ganz offensichtlich bemerkt hatte. “Mein Vater hatte auch keine. Selten, aber ungefährlich. Im Übrigen, was wollen wir Männer eigentlich damit?”
“Tja, was wollen
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