Schneemann
Ohrensessel fallen und musterte die glatten Wände.
Erst als er in die Küche ging, bemerkte er, dass das Wunder nicht ganz makellos war. Der Kalender mit Rakel und Oleg war verschwunden. Das himmelblaue Kleid. Er fluchte laut, durchwühlte den Mülleimer und sogar den Abfallcontainer unten im Hinterhof, ehe er einsah, dass seine zwölf glücklichsten Monate zusammen mit dem Schimmel ausgerottet worden waren.
Für Kjersti Rodsmoen war dieser Arbeitstag definitiv anders als alle anderen. Nicht nur, weil die Sonne einen ihrer seltenen Auftritte am Bergener Himmel hatte und durch die Fenster des Flures schien, über den Kjersti Rodsmoen in der psychiatrischen Station des Haukeland-Krankenhauses in Sandviken hastete. Das Krankenhaus hatte seinen Namen so oft geändert, dass in Bergen kaum jemand wusste, dass sein offizieller Name zurzeit Sandviken-Klinik lautete. Nur die geschlossene Abteilung hieß vorläufig noch immer psychiatrische Station, aber man wartete nur darauf, dass dieser Name demnächst auch wieder irgendjemandem diskriminierend oder stigmatisierend vorkam.
Sie wusste nicht recht, was sie von dem bevorstehenden Termin mit der Patientin halten sollte, die man hier unter den strengsten Sicherheitsvorkehrungen festhielt, die Kjersti jemals erlebt hatte. Gemeinsam mit Espen Lepsvik vom Kriminalamt und Knut Müller-Nilsen vom Bergener Polizeipräsidium hatten sie sich auf gewisse ethische Grenzen und Rahmenbedingungen verständigt. Die Patientin war psychotisch und konnte deshalb nicht offiziell von der Polizei verhört werden. Sie als Psychiaterin konnte mit ihr sprechen, aber nur, um der Patientin zu helfen, und nicht etwa, um ihr - wie es die Polizei wollte - etwas zu entlocken. Und schließlich gab es ja auch noch die Schweigepflicht. Kjersti Rodsmoen musste selbst entscheiden, ob die Sachverhalte, die bei einem therapeutischen Gespräch möglicherweise ans Licht kamen, von so großer Bedeutung für die Ermittlungen der Polizei sein konnten, dass sie sie ihnen mitteilen musste. Außerdem wären diese Angaben vor Gericht wertlos, da sie von einer psychotischen Patientin gemacht worden waren. Sie bewegten sich also juristisch wie ethisch in einer Art Minenfeld, in dem selbst der geringste Fehltritt katastrophale Folgen haben konnte, denn wirklich alles, was sie tat, wurde von der Staatsanwaltschaft und den Medien verfolgt.
Ein Pfleger und ein uniformierter Polizist standen vor der weißen Tür des Behandlungszimmers. Als Kjersti auf die ID-Karte deutete, die an ihrem weißen Arztkittel hing, öffnete der Polizist die Tür.
Sie hatten vereinbart, dass der Pfleger alles genau verfolgte, um sofort Alarm schlagen zu können, wenn etwas passierte.
Kjersti Rodsmoen setzte sich und betrachtete ihre Patientin. Es war nur schwer vorstellbar, dass sie jemandem gefährlich werden könnte. Eine schmächtige Frau mit strähnigen Haaren, die ihr wirr ins Gesicht hingen, einer schwarzen Naht am Mundwinkel und weit aufgerissenen Augen, die in bodenloser Panik auf etwas starrten, das Kjersti Rodsmoen nicht sehen konnte. Im Grunde wirkte diese Frau derart paralysiert, dass man meinen konnte, ein Hauch könne sie jederzeit umpusten. Der Gedanke, dass diese Frau kaltblütig Menschen ermordet hatte, erschien ihr vollkommen absurd und unglaubwürdig. Aber das war ja immer so.
“Guten Tag”, grüßte die Psychiaterin. “Ich bin Kjersti.” Keine Antwort.
“Was haben Sie für ein Problem? Was glauben Sie selbst? “, fragte sie.
Diese Frage stammte aus dem Lehrbuch für den Umgang mit psychotischen Patienten. Die Alternative lautete: “Was glauben Sie, womit kann ich Ihnen helfen?”
Noch immer keine Antwort.
“In diesem Raum sind Sie sicher. Vollkommen sicher. Niemand hier will Ihnen etwas Böses. Ich werde Ihnen nichts tun. Sie sind hier ganz sicher.”
Wieder so eine stereotype Versicherung, die laut Lehrbuch dazu geeignet war, die psychotische Person zu beruhigen. Weil man es bei einer Psychose in erster Linie mit bodenloser Angst zu tun hat. Kjersti Rodsmoen fühlte sich wie eine Stewardess, die vor dem Start der Maschine die Sicherheitshinweise herunterleiert. Mechanisch und routiniert. Selbst bei Flugrouten, die über die trockensten Wüsten führen, demonstriert man den Gebrauch der Schwimmwesten. Weil die Botschaft vermittelt, was sie vermitteln soll: Sie dürfen gerne Angst haben, aber wir passen auf Sie auf.
Als Nächstes musste sie den Sinn der Patientin für die Realität überprüfen.
” Wissen
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