Schneemann
mit der todbringenden Schlinge in Kontakt kam, die fast vertikal um ihren Hals hing.
Sie starrte Harry an, blickte zu Boden und dann wieder zu ihm.
Und Harry verstand.
In der Pfütze am Boden dümpelten bereits graue Schneeklumpen. Der Schneemann schmolz. Schnell.
Harry spannte seinen Körper an und riss mit aller Kraft an den Gitterstäben. Sie rührten sich nicht, gaben nicht einmal ein vielversprechendes Knirschen von sich. Die Eisenstangen waren zwar dünn, aber tief in den Bohlen verschraubt.
Die Gestalt im Zimmer schwankte.
“Halt durch!”, schrie Harry. “Ich komme gleich rein!”
Lüge. Diese Gitterstäbe hätte er nicht einmal mit einer Brechstange heraushebeln können. Und zum Durchsägen fehlte die Zeit. Er verfluchte ihren Vater, diesen geisteskranken Verrückten! Seine Arme begannen mittlerweile zu schmerzen. Als er die schrille Sirene des ersten Polizeiwagens hörte, der in die Einfahrt rollte, drehte er sich um. Es war einer der Spezialwagen der Einheit Delta, ein schwarzer, gepanzerter Landrover. Ein Mann in grünem Tarnanzug sprang aus dem Wagen, ging hinter dem Auto in Deckung und holte das Funkgerät heraus. Harrys eigener Apparat antwortete knackend.
“Hallo!”, rief Harry.
Der Mann sah sich verwirrt um. “Hier oben, Chef!”
Gunnar Hagen richtete sich gerade auf, als ein Streifenwagen mit angeschaltetem Blaulicht in die Einfahrt bog.
“Sollen wir das Haus stürmen?”, brüllte Hagen nach oben. “Nein!”, schrie Harry. “Er hat sie da drinnen angebunden. Nur …”
“Nur was?”
Harry hob den Blick und starrte - nicht nach unten Richtung Stadt, sondern nach oben zum hellerleuchteten Holmenkollen. “Nur was, Harry?”
“Warte!”
“Warte?”
“Ich muss nachdenken.”
Harry legte die Stirn an die kalten Gitterstäbe. Seine Arme schmerzten, so dass er die Beine beugte, um möglichst viel Gewicht auf die Füße zu verlagern. Diese Schlinge musste ja auch einen Ausschalter haben. Vermutlich am Plastikgriff. Vielleicht war es ja möglich, das Fenster einzuschlagen und eine lange Stange mit einem Spiegel ins Zimmer zu schieben, vielleicht konnten sie dann … Aber verdammt, wie sollte man denn einen Knopf drücken können, ohne dass die ganze Chose in Bewegung geriet und … und … ? Harry versuchte nicht an die lächerlich dünne Schicht Haut und Gewebe zu denken, die eine Halsschlagader schützte. Er rang darum, konstruktiv zu denken und die Panik zu überhören, die in seine Ohren brüllte und die Kontrolle an sich zu reißen drohte.
Sie konnten natürlich durch die Tür in das Zimmer gelangen, ohne diese zu öffnen, indem sie die Türfüllung heraussägten. Aber dafür brauchten sie eine Motorsäge. Nur - wer konnte so etwas haben? Dabei hatten doch alle hier oben an diesem Scheiß-Holmenkollen Fichten im Garten stehen …
“Holt euch eine Motorsäge bei den Nachbarn”, brüllte Harry.
Von unten hörte er eilige Schritte. Und ein sattes Platschen aus dem Schlafzimmer. Harrys Herzschlag setzte für einen Moment aus, als er nach drinnen sah. Die ganze linke Seite des Schneemanns war weg, sie war einfach nach unten ins Wasser gerutscht. Er konnte jeden Moment ganz in sich zusammensacken. Harry sah Rakel am ganzen Körper zittern, während sie darum kämpfte, die Balance zu halten und dem weißen, tropfenförmigen Galgen zu entgehen. Sie würden es niemals mit dieser Säge schaffen, geschweige denn die Tür rechtzeitig aufbekommen.
“Hagen!” Harry hörte die schrille Hysterie in seiner Stimme. “Der Wagen hat doch ein Abschleppseil. Wirf es mir hoch und setz den Wagen bis an die Hauswand zurück.”
Harry hörte aufgeregte Stimmen, den Motor des Landrovers, der im Rückwärtsgang aufheulte, und einen Kofferraum, der geöffnet wurde.
“Hier, fang!”
Harry ließ das Gitter mit einer Hand los und drehte sich rechtzeitig genug um, um das Tau auf sich zufliegen zu sehen. Er griff ins Dunkle, bekam es sofort zu fassen und hielt es fest, während sich der Rest des Seils entrollte und zu Boden fiel.
“Mach das andere Ende am Auto fest!”
Blitzschnell schlug er den Karabinerhaken an seinem Tauende um die gekreuzten Gitterstäbe in der Mitte des Fensters und schloss den Sicherungsring. Speedcuffing.
Wieder kam ein Platschen aus dem Schlafzimmer. Harry sah gar nicht hin, es hatte sowieso keinen Sinn.
“Gib Gas!”, schrie er.
Dann packte er den Rand der Dachrinne mit beiden Händen und nutzte die Gitterstäbe als Leiter, um sich aufs Dach zu schwingen und
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