Schneemann
Deckel der Truhe. Verschlossen. Der Schlüssel steckte, aber Rakel schloss die Truhe sonst nie ab. Wieder schossen ihm die Bilder von Finnoy durch den Kopf, aber er beeilte sich trotzdem, drehte den Schlüssel herum und riss den Deckel hoch.
Im Dunkel der Truhe sah Harry es kurz metallisch aufglänzen, als ihn auch schon ein stechender Schmerz im Gesicht zurücktaumeln und zu Boden gehen ließ. Ein Messer? Er war auf dem Rücken gelandet und lag nun zwischen zwei Wäschekörben, als er eine Gestalt rasch und geschmeidig aus der Truhe steigen und sich über ihn stellen sah.
“Polizei!”, rief Harry und schwang seinen Revolver nach vorn.
“Keine Bewegung!”
Die Gestalt erstarrte mit erhobenen Händen. “Ha … Harry?” “Oleg?”
Als Harry den Revolver senkte, sah er, was der Junge in der Hand hielt. Einen Schlittschuh.
“I … ich dachte, Mathias sei zurückgekommen”, flüsterte er. Harry rappelte sich auf. “Ist Mathias im Haus? Jetzt?”
“Ich weiß nicht. Er hat gesagt, dass wir uns bald wiedersehen, deshalb dachte ich … “
“Woher hast du denn den Schlittschuh?” Harry spürte den charakteristisch metallischen Geschmack auf der Zunge, und als er mit den Fingern die Haut abtastete, fand er die Ränder der Schnittwunde, aus der das Blut sickerte.
“Der lag in der Truhe.” Oleg grinste schief. “Es gab immer so viel Ärger, wenn ich die auf der Treppe liegen ließ, deshalb habe ich sie irgendwann unter den Erbsen versteckt, damit Mama sie nicht sieht. Die essen wir nämlich nie.”
Er folgte Harry, der bereits wieder auf dem Weg nach oben war. “Zum Glück waren die Kufen frisch geschliffen, so dass ich diese Plastikstrips durchschneiden konnte. Das Schloss habe ich nicht aufgekriegt, aber ich konnte mir ein paar Löcher in die Bodenplatte kloppen, so dass ich Luft bekam. Und dann habe ich noch die Lampe zertrümmert, damit es dunkel ist, wenn er zurückkommt und den Deckel aufmacht.”
“Und mit deiner Körperwärme hast du das Eis geschmolzen, das durch die Löcher nach draußen gelaufen ist”, ergänzte Harry.
Als sie auf den Flur kamen, zog Harry Oleg zur Haustür, die er öffnete, bevor er den Arm ausstreckte und zum Nachbarhaus deutete.
“Siehst du das Licht da drüben bei den Nachbarn? Lauf rüber und bleib da, bis ich komme und dich hole. Okay?”
“Nein!”, widersprach Oleg entschlossen. “Mama … “
“Jetzt hör mir mal zu! Das Beste, was du für deine Mutter tun kannst, ist, hier auf der Stelle die Fliege zu machen.”
“Ich will sie aber finden!”
Harry packte Olegs Schultern so fest, dass dem Jungen die Tränen in die Augen stiegen.
“Wenn ich sage, lauf, dann läufst du, du verdammter Idiot!” Er sagte diese Worte leise, doch mit solcher Wut, dass Oleg verwirrt blinzelte, eine Träne über die Wimpern rutschte und auf seine Wange fiel. Dann machte er auf dem Absatz kehrt, stürmte durch die Tür und wurde im nächsten Moment auch schon von der Dunkelheit und dem Schneetreiben verschluckt.
Harry nahm das Funkgerät und drückte den Sprechknopf. “Harry hier, seid ihr noch weit weg?”
“Beim Sportplatz, over.” Harry erkannte die Stimme von Gunnar Hagen.
“Ich bin im Haus”, teilte Harry ihm mit. “Fahrt vor das Haus, aber kommt nicht rein, bevor ich es sage, verstanden?” “Verstanden. “
“Over und aus.”
Harry ging dem Geräusch nach, er war sich sicher, dass es aus der Küche kam. In der Türöffnung blieb er stehen und starrte auf die Tropfen, die in so rascher Folge von der Decke fielen, dass sie fast schon einen dünnen Strahl bildeten. Das Wasser war grau durch den gelösten Gips und trommelte fieberhaft auf den Küchentisch.
Harry nahm die Treppe ins Obergeschoss mit vier langen Sätzen. Schlich sich zur Schlafzimmertür. Schluckte. Starrte auf die Klinke. In der Ferne hörte er schon die Polizeisirenen näher kommen. Ein Tropfen Blut quoll aus der Wunde und platschte mit einem satten Laut aufs Parkett.
Er spürte es wie einen Druck auf der Schläfe: Das Ganze endete hier. Und es hatte eine gewisse Logik. Wie oft hatte er vor dieser Tür gestanden, in der Morgendämmerung, nach einer Nacht, die er bei ihr zu verbringen versprochen hatte. Mit schlechtem Gewissen, unschlüssig, wohl wissend, dass sie dort drinnen lag und schlief. Vorsichtig hatte er dann die Klinke nach unten gedrückt, die auf halbem Weg immer ein leises Knirschen von sich gab. Und dann wachte sie auf, sah ihn schlaftrunken an und versuchte einen strafenden
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