Schneemann
Blick aufzusetzen. Bis er unter die Decke schlüpfte, sich an ihren Körper schmiegte und spürte, wie ihre Anspannung nachließ und sie wohlig brummte, wenn auch noch nicht ganz zufrieden. Und dann streichelte er sie, küsste und biss sie, war ihr Diener, bis sie auf ihm saß und keine verschlafene Königin mehr war, sondern schnurrte und jammerte, erregt und beleidigt gleichermaßen.
Als er die Finger um die Klinke schloss, erkannte seine Hand die glatte, eckige Form sofort wieder. Er drückte sie nach unten, ganz langsam und vorsichtig. Wartete auf das wohlbekannte Knirschen. Aber es kam nicht. Irgendetwas war anders. Der Widerstand des Schlosses. Hatte jemand die Federn gestrafft? Behutsam ließ er die Klinke wieder los, bückte sich zum Schlüsselloch und versuchte hindurchzusehen. Schwarz. Jemand hatte etwas hineingeschoben.
“Rakel!”, rief er. “Bist du da drin?”
Keine Antwort. Er legte sein Ohr an die Tür. Glaubte einen kratzenden Laut zu hören, war sich aber nicht sicher. Wieder legte er die Hand auf die Klinke. Zögerte. Entschied sich dagegen, ließ wieder los und ging schnell ins Badezimmer, das neben dem Schlafzimmer lag. Dort machte er das kleine Fenster auf, zwängte seinen Oberkörper hindurch und lehnte sich nach draußen. Durch das schwarze Eisengitter vor dem Schlafzimmerfenster sickerte Licht. Er drückte Knie und Unterschenkel gegen den Rahmen des Fensters, spannte die Beinmuskeln an und streckte sich so weit wie möglich aus dem Badezimmerfenster Richtung Schlafzimmer. Vergeblich versuchte er mit den Fingern zusätzlichen Halt zwischen den rauen Blockbohlen der Hauswand zu finden, während der Schnee sich auf sein Gesicht legte und mit dem Blut verschmolz, das ihm über die Wange rann. Der Augenblick zog sich unerträglich in die Länge, die Beine pressten sich so heftig gegen den Fensterrahmen, dass er befürchtete, sie könnten jeden Moment brechen. Seine Hände krochen wie verzweifelte, fünfbeinige Spinnen über die Wand. Seine Bauchmuskeln brannten. Aber es war zu weit, es konnte nicht funktionieren. Er blickte nach unten und wusste, dass unter der dünnen Schicht Neuschnee bloß der Asphalt wartete.
Dann spürte er etwas Kaltes an seinen Fingerkuppen. Das äußerste Gitter.
Er bekam zwei Finger um das Eisen. Drei. Dann die andere Hand. Endlich konnte er seine schmerzenden Beine vom Fensterrahmen wegziehen, pendelte kurz an der Wand und stellte dann rasch seine Schuhsohlen gegen die Fassade, um die Arme zu entlasten. Endlich konnte er ins Schlafzimmer blicken. Und sah. Sein Hirn rang noch mit den Eindrücken, doch im Grunde wusste es sofort, was es sah: das fertige Kunstwerk, dessen Skizze es bereits kannte.
Rakels Augen waren weit aufgerissen und schwarz. Sie trug ein Kleid. Tiefrot. Wie Campari. Sie war “Cochenille”. Den Hals hielt sie unnatürlich gestreckt, als versuche sie, über einen Zaun zu blicken. Aus dieser Position richtete sie ihre Augen nach unten auf ihn. Nach draußen. Ihre Schultern waren nach hinten gebogen, die Arme nicht zu sehen. Harry ging davon aus, dass sie auf dem Rücken gefesselt waren. Die Form ihrer Wangen verriet, dass sie eine Socke oder einen Lappen im Mund hatte. Rakel saß auf den Schultern eines gewaltigen Schneemanns. Ihre nackten Beine schlangen sich um den Kopf und waren vor seiner Brust verschränkt. Harry konnte ihre Muskeln zittern sehen. Sie durfte nicht fallen. Konnte nicht. Denn um ihren Hals war kein grauer, toter Draht geschlungen wie bei Eli Kvale, sondern ein glühender, weißer Kreis, wie die absurde Imitation einer alten Reklame, in der ein Kreis aus Zahnpasta dem Verbraucher Selbstvertrauen, Glück in der Liebe und ein langes, glückliches Leben versprach. Vom schwarzen Handgriff der glühenden Schneideschlinge führte eine Schnur zu einem Haken, der an der Decke über Rakels Kopf befestigt war, und von dort weiter zum anderen Ende des Raumes und zur Klinke der Tür. Die Schnur war nicht dick, hatte aber trotzdem spürbaren Widerstand geleistet, als Harry die Klinke nach unten hatte drücken wollen. Hätte er die Tür geöffnet oder auch nur die Klinke ganz hinuntergedrückt, hätte sich der glühende Draht sofort unter Rakels Kinn in ihren Hals geschnitten.
Rakel starrte Harry an, ohne zu blinzeln. Die Muskeln in ihrem Gesicht zuckten, und ihr Ausdruck wechselte zwischen Wut und nackter Angst. Die Schlinge war zu eng, als dass sie ihren Kopf unbeschadet hätte herausziehen können. Daher neigte sie ihn so, dass er nicht
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