Schneemann
Schwanenhals
Sylvia rannte immer tiefer in den Wald. Hinein in das Dunkel. Eigentlich hasste sie den November, diese Zeit, in der die Nacht mit einem Mal so früh hereinbrach, doch heute konnte es ihr nicht schnell genug dunkel werden. Sie schlug sich in die dichtesten Stellen des Waldes, damit ihre Spuren im Schnee nicht mehr zu sehen waren und sie sich verstecken konnte. Sie kannte sich hier gut genug aus, um sich orientieren zu können, so dass sie nicht versehentlich wieder zurück zum Haus laufen würde und damit in die Fänge dieses … dieses Etwas. Das Problem war nur, dass der Schnee die Landschaft über Nacht verändert, sich auf alle Wege und Felsen gelegt und alle Konturen verwischt hatte. Und dann die Dämmerung … Sie verzerrte alles nur noch mehr, ganz zu schweigen von ihrer eigenen Panik.
Sie blieb stehen und lauschte. Ihr keuchender, schmerzhafter Atem zerriss die Stille und klang wie das Butterbrotpapier, das sie morgens von der Rolle riss, um die Schulbrote ihrer Mädchen einzupacken. Als es ihr schließlich gelang, für einen Moment die Luft anzuhalten, hörte sie nur das Blut in ihren Ohren pochen - und das leise Glucksen des Baches. Der Bach! Sie gingen für gewöhnlich am Ufer entlang, wenn sie Beeren pflückten, Fallen aufstellten oder nach den Hühnern suchten, die doch immer nur der Fuchs geholt hatte. Der Bach führte hinunter zur Schotterstraße, auf der früher oder später ein Auto kommen musste.
Sie hörte jetzt keine anderen Schritte mehr. Keine brechenden Zweige und kein Knirschen im Schnee. War sie ihm doch entkommen? Gebeugt hastete sie weiter in die Richtung, aus der das Glucksen kam.
Der Bach sah aus, als flösse er über ein weißes Laken durch eine Vertiefung im Waldboden.
Sylvia stieg hinein. Das Wasser reichte ihr bis zu den Knöcheln und drang sofort durch ihre Stiefeletten. Es war so kalt, dass es ihre Beinmuskulatur lähmte. Dann begann sie stromabwärts zu laufen. Es platschte laut, wenn sie ihre Beine hob, um möglichst lange, raumgreifende Schritte machen zu können. Keine Spuren, dachte sie triumphierend. Und ihr Puls sank, obgleich sie noch immer rannte.
Das hatte sie sicher den Stunden in der Tretmühle des Fitnessstudios zu verdanken, die sie im letzten Jahr dort verbracht hatte. Sie hatte sechs Kilo abgenommen und durfte mit Fug und Recht behaupten, dass ihr Körper in besserer Verfassung war als der der meisten anderen Fünfunddreißigjährigen. Das behauptete auf jeden Fall Yngve, den sie letztes Jahr bei einem dieser Inspirationsseminare getroffen hatte. Gott, wie hatte er sie inspiriert! Wenn sie doch nur die Uhr zurückdrehen könnte. Elf Jahre zurück. Was würde sie nicht alles anders machen! Sie hätte Rolf nicht heiraten sollen. Und sie hätte abtreiben lassen sollen. Jetzt, da die Zwillinge auf der Welt waren, war der Gedanke natürlich vollkommen unmöglich. Aber vor der Entbindung, bevor sie die Kleinen gesehen hatte, ihre Emma und Olga, wäre es noch möglich gewesen. Dann würde sie jetzt nicht in diesem Gefängnis stecken, das sie sich selbst so sorgsam errichtet hatte.
Sie fegte die Zweige zur Seite, die über den Bach hingen, und sah aus dem Augenwinkel ein aufgeschrecktes Tier im Grau des Waides verschwinden.
Sie ermahnte sich, nicht so mit den Armen zu rudern, sonst verletzte sie sich noch mit dem Beil am Bein. Es waren erst Minuten vergangen, doch es kam ihr bereits wie eine Ewigkeit vor, dass sie im Stall gestanden und geschlachtet hatte. Zwei Hühnern hatte sie bereits den Kopf abgehackt und wollte gerade das dritte schnappen, als sie das Knirschen der Stalltür hinter sich hörte. Natürlich schreckte sie zusammen, schließlich war sie allein zu Hause und hatte weder Schritte noch ein Auto draußen auf dem Hof gehört. Als Erstes war ihr das seltsame Werkzeug aufgefallen, eine dünne Metallschlinge an einem Handgriff. Es ähnelte den Fallen, mitdenen sie Füchse fingen. Und als derjenige, der dieses Werkzeug in der Hand hielt, zu reden begonnen hatte, war ihr sofort klargeworden, dass sie diesmal die Beute sein sollte, dass sie sterben sollte. Ihr war sogar erklärt worden, warum.
Sie hatte der kranken, aber klaren Logik gelauscht, während sich das Blut durch ihre Adern wälzte, als würde es bereits gerinnen. Und schließlich war ihr gesagt worden, wie sie sterben sollte, bis ins kleinste Detail. Als die Schlinge erst rot und dann weiß zu glühen begann, hatte sie in wilder Panik um sich geschlagen und gesehen, wie das frisch
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