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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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die Luft einsog und witterte. Sie saß vollkommen reglos da. Dann gingen die Schritte weiter. Das Geräusch wurde leiser, entfernte sich.
    Zitternd hielt sie den Atem an. Jetzt musste sie sich nur noch befreien. Ihre Kleider waren durchnässt, und wenn niemand sie fand, würde sie im Laufe der Nacht garantiert erfrieren. Im gleichen Moment kam ihr das Beil in den Sinn! Sie hatte es ganz vergessen. Das Stahlseil war dünn. Wenn sie es auf einen Stein legte und ein paar Mal gut zuschlug, war sie frei. Das Beil musste im Bach gelandet sein. Sie krabbelte hinein, steckte die Hände in das schwarze Wasser und suchte den steinigen Grund ab.
    Nichts.
    Verzweifelt sackte sie auf die Knie, während ihr Blick den Schnee auf beiden Seiten des Ufers absuchte. Plötzlich sah sie die Klinge des Beils zwei Meter vor sich aus dem Wasser ragen. Sie wusste es, noch ehe sie den Ruck des Seils spürte und sich längs in den Bach warf, so dass das Wasser eisig kalt über sie strömte und ihr Herz stocken ließ. Wie eine verzweifelte Bettlerin streckte sie ihre Hand zu dem Beil. Es war einen halben Meter zu weit weg. Ihre Finger krümmten sich nur um Luft. Ihr kamen die Tränen, doch sie zwang sie zurück, später konnte sie immer noch weinen.
    “Na, willst du das haben?”
    Sie hatte weder etwas gehört noch etwas gesehen. Aber vor ihr im Bach hockte eine Gestalt. Diese Gestalt. Sylvia kroch nach hinten, aber die Gestalt folgte ihr, das Beil in der ausgestreckten Hand vorgereckt:
    ” Dann hol’s dir doch.”
    Sylvia kniete sich hin und nahm das Beil.
    “Was willst du denn damit?”, fragte die Stimme.
    Sylvias panikartige Furcht war blanker Wut gewichen, die in ihr überkochte, mit heftigen Folgen. Sie stürzte sich mit hocherhobenem Beil nach vorn und schwang es am ausgestreckten Arm herum. Aber das Stahlseil hielt ihr Bein fest, so dass das Beil nur die Dunkelheit durchtrennte. Im nächsten Augenblick lag sie wieder im Wasser.
    Die Stimme lachte leise.
    Sylvia wälzte sich auf die Seite. “Geh weg!”, stöhnte sie und spuckte Kies.
    “Ich will, dass du Schnee frisst”, sagte die Stimme, erhob sich und hielt sich einen Moment die Seite, an der die Jacke aufgeschlitzt war.
    “Was?”, fragte Sylvia verblüfft.
    “Ich will, dass du Schnee frisst, bis du dir in die Hose machst.” Die Gestalt hatte sich etwas außerhalb des Stahlseilradius’ aufgestellt und betrachtete sie mit leicht geneigtem Kopf. “Bis dein Bauch so kalt und voll ist, dass er keinen Schnee mehr schmelzen kann. Bis nur noch Eis in dir ist. Bis du dein wahres Ich bist. Jemand, der keine Gefühle hat.”
    . Sylvias Hirn fasste den Befehl auf, verstand seinen Sinn aber nicht. “Niemals!”, schrie sie.
    Die Gestalt machte einen Laut, der sich mit dem Glucksen des Baches mischte. “Schrei nur, meine liebe Sylvia. Aber es wird dich niemand hören, niemals.”
    Sylvia sah, wie die Gestalt etwas hochhob und einschaltete. Die Schlinge zeichnete sich wie ein rotglühender Tropfen vor der Dunkelheit ab. Sie zischte und rauchte, als sie mit dem Wasser in Berührung kam. “Glaub mir, du wirst dich dafür entscheiden, Schnee zu fressen.”
    Mit lähmender Gewissheit ging Sylvia auf, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Nur eine Möglichkeit blieb ihr noch. Die Dunkelheit war in den letzten Minuten mit aller Macht hereingebrochen, doch sie versuchte sich weiterhin auf die Gestalt zu konzentrieren, die zwischen den Bäumen stand, während sie das Beil in der Hand wiegte. Das Blut prickelte in ihren Fingerspitzen, als es wieder in Bewegung kam und wie sie Bescheid zu wissen schien. Ihre letzte Chance. Das hatte sie mit den Zwillingen geübt. An der Scheunenwand. Und nach jedem Wurf hebelten die Mädchen das Beil aus der aufgemalten Zielscheibe auf der Scheunenwand und riefen triumphierend: “Du hast das Biest erledigt, Mama! Du hast es erledigt!” Sylvia schob den einen Fuß etwas vor. Ein Schritt Anlauf, das war optimal für die richtige Kombination von Kraft und Präzision.
    “Du bist verrückt”, flüsterte sie.
    “Was das angeht … “, erwiderte der andere - und Sylvia meinte ein Lächeln zu erkennen -, “bestehen wohl kaum Zweifel.”
    Das Beil wirbelte mit einem leisen, singenden Laut durch die dichte, beinahe greifbare Dunkelheit. Sylvia stand perfekt ausbalanciert, den rechten Arm nach vorn gestreckt und blickte der todbringenden Waffe nach. Sah sie zwischen die Bäume fliegen und hörte sie einen Zweig abtrennen, ehe sie im Dunkel verschwand und

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