Schneemond (German Edition)
und schließlich nach Hamburg gegangen und Ben....?
Jetzt nach so vielen Jahren und nachdem diese Nachricht von Ben auf dem Bildschirm seines Computers erschienen war, wurde ihm erst bewusst, mit welcher erschreckender Konsequenz er Ben gedanklich aus seinem Leben gestrichen hatte. Er hatte natürlich Ben’s Nummer gehabt – so wie der auch die seine – aber er konnte sich nicht erinnern, mit Ben nach dem Tag ihrer Verabschiedung auch nur
einmal
gesprochen zu haben. Und am meisten bestürzte ihn, dass er auch nicht einmal an ihn
gedacht
hatte.
Nicht ein einziges mal in all den Jahren
.
Und nun kam Ben mit der Selbstverständlichkeit des Sonnenaufgangs in sein Leben gerumpelt und machte ihn die vergangenen Jahre fast vergessen. Woher hatte der überhaupt seine Mailadresse? Da fiel ihm plötzlich noch etwas ein, etwas das Ben bei ihrem letzten Gespräch augenzwinkernd zu ihm gesagt hatte.
»Ich behalte dich im Auge, mein Freund«, hatte er gesagt, »was auch passiert ich behalte dich im Auge.«
Die Nachricht war kurz:
Hallo Lukas, Überraschung, Überraschung. Habe einen interessanten Auftrag, bei dem ich Dein Wissen brauchen könnte. Bitte ruf mich an, damit wir uns treffen können. Grüße Ben
.
Und darunter die übliche Visitenkarte mit Anschrift und Telefonnummern.Lukas starrte geschlagene zehn Minuten auf den Bildschirm und las die Nachricht immer wieder. Das war Ben, sein alter Kumpel aus Studientagen und er hatte mit dieser kurzen Nachricht etwas in Lukas geweckt, von dem er geglaubt hatte, dass er es für immer verloren hätte – nämlich seine Neugierde.
Schließlich griff er nach dem Telefon und wählte Ben’s Nummer.
Als Dr. Heimann zurück ins Sprechzimmer kam, sah er für einen kurzen Augenblick auf Lukas, der auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch saß. Und er erkannte brennenden Zorn in seinen Zügen. Als er Lukas’ Blick folgte, bemerkte er, dass dieser auf das Kruzifix an der Wand gerichtet war. Und nicht zum ersten Mal überkam ihn Mitleid mit diesem entwurzelten und gepeinigten Mann. Und nicht zum ersten Mal musste er sich zur Ordnung rufen und dieses Gefühl zurückdrängen.
»Ich habe hier die Laborergebnisse Lukas« , sagte er sachlich. »Ihre Blutwerte sind in Ordnung.«
Lukas schloss kurz die Augen und atmete hörbar ein, bevor er Dr. Heimann ansah und mit einem resignierten Unterton erwiderte: »Ist ja schön, dann bin ich also kerngesund.«
»Körperlich ja.«
»Aha, und geistig?«
Dr. Heimann sah Lukas lange in die Augen und schüttelte schließlich den Kopf, während er sich zurücklehnte.
»Nein Lukas,« sagte er, »nicht schon wieder den armen, verzweifelten Geisteskranke. Das können Sie besser, das wissen wir beide doch sehr gut.«
Kurz blitzte Wut in Lukas Augen auf, doch dann entspannte er sich wieder und es erschien sogar so etwas wie der Versuch eines Lächelns um seinen Mund.
»Sie haben ja Recht, Doktor, aber diese Kopfschmerzen treiben mich manchmal schier zum Wahnsinn. Da helfen die Tabletten, mit denen Sie mich mästen, auch nicht sehr viel.«
»Aha, die Schmerzen also«, sagte Dr. Heimann lauernd.
Lukas sah den alten Mann an und wusste sehr genau, dass dieses Katz und Maus Spiel bei ihm zu nichts führte.
Seit drei Jahren war er nun schon bei Dr. Heimann in Behandlung und er musste zugeben, dass es dieser Mann wie kein anderer verstanden hatte sein Vertrauen zu gewinnen und ihn aus der Reserve zu locken – im besten Sinn des Wortes.
Er wusste nicht wie alt Dr. Heimann eigentlich war, aber er schätzte ihn sicher auf Mitte sechzig. Er war eher klein und gedrungen – gemütlich – fiel ihm ein. Ja das traf es ziemlich genau. Und doch war er in keiner Weise einfältig und behäbig. Er hatte ein unglaubliches Einfühlungsvermögen undeinen scharfen Verstand. Und in seinen klaren Augen zeigte sich ab und an – gerade jetzt, als er ihn ansah – etwas beinah raubtierhaftes, das so gar nicht zu dem rundlichen Gesicht und zu dem weißen, schütteren Haar passte. Und Lukas hatte sich eines schon vor geraumer Zeit eingestanden: Er mochte diesen alten Mann von ganzem Herzen. Und all das veranlasste ihn jetzt, ein Stück weit seine Deckung aufzugeben.
»Nein, Doktor, nicht die Schmerzen – oder nicht nur. Diese Träume und meine Erinnerungen, sie liegen wie ein Fluch über mir und ich habe das Gefühl sie werden immer stärker und übermächtiger und ich habe ihnen jeden Tag weniger entgegenzusetzen.«
Die Schärfe verschwand aus Heimann’s Augen und machte
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