Schneerose (German Edition)
Schikanen
der anderen erscheinen plötzlich nur noch halb so schlimm. Sie ist immerhin nur
wenige Stunden des Tages in der Schule. Eisblaue Augen und Haare so dunkel wie
die Nacht tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Die Haut an ihrem Hals prickelt
vor Erregung bei dem Gedanken an die vielen Küsse und Berührungen der letzten
Nacht. Verblüfft stellt sie fest, dass sie sich nicht wie sonst für die
Erinnerung daran schämt.
Erleichtert
schwingt sie ihre Beine aus dem Bett und tapst barfuß in ihre Decke gehüllt
über die Holzdielen zu ihrem weißen Holzkleiderschrank und öffnet schwungvoll
die Flügeltüren. Der Schrank ist zweigeteilt. Auf der einen Hälfte befindet
sich eine Kleiderstange mit den perlgrünen Blazern und Röcken sowie einer Reihe
weißer Blusen ihrer Schuluniform. Außerdem noch eine dicke Daunenjacke für
kalte Tage und eine verschlissene braune Lederjacke, die das letzte
Überbleibsel ihrer Mutter darstellt. Der einzige Beweis, dass sie überhaupt je
existiert hat. Denn im ganzen Haus konnte Lia bisher weder ein Foto noch sonst
irgendeinen Nachweis ihrer Existenz finden. Seitdem sie laufen kann, durchsucht
sie bereits sowohl den Keller als auch den Dachboden danach, jedoch ohne jeglichen
Erfolg. Sie weiß nicht mal, ob sie ihr überhaupt ähnlich sieht. Ihren Vater
nach ihr zu fragen, ist zwecklos, da er jedes Mal in eine Art Trance verfällt
und dann nur vor sich hin stammelt wie wunderschön sie war, aber dass sie
gegangen sei. Kein vernünftiges Wort ist in Bezug auf ihre Mutter aus ihm
herauszubekommen. Es ist wie, mit einer Wand zu reden, sodass Lia ihn oft am
liebsten fest an beiden Schultern packen würde, um ihn dann solange zu
schütteln, bis er endlich mit Antworten auf ihre vielen Fragen herausrückt.
Die andere
Hälfte des Schranks enthält Fächer für private Kleidung, die bei Lia
hauptsächlich aus schwarzen und grauen Longtops und dunklen Jeanshosen besteht.
Nur im untersten Fach knüllen sich ein paar kurze Minikleider zusammen, an
deren Käufe sie sich nur entfernt erinnert. Manchmal ist die Scham am Morgen so
groß, dass sie sich eines der Kleider in Wut herauszerrt und eigenhändig mit
einer Schere zerschneidet. Doch seltsamerweise gehen die winzigen Fetzen nie
aus.
Nachdem sie sich
im Badezimmer gewaschen und angezogen hat, stellt sie sich in ihrem Zimmer vor
den Spiegel, der über ihrer mit Schnörkel verzierten Kommode hängt, und
streicht mit den Fingern über die feine Stickerei des Schulwappens auf dem
Blazer ihrer Uniform. Ein weißer Leuchtturm auf grünem Grund, das Logo von
Scarborough, der ehemaligen Fischerstadt.
Mit einer Bürste
kämmt sie sich die Haare und will sie bereits wieder in einem Pferdeschwanz
zurückbinden, doch entscheidet sich dann dagegen. Warum sollte sie ihr Haar
nicht mal wie jedes andere Mädchen offen tragen? Sollen die anderen doch reden,
was sie wollen! Sie ist doch nicht auf der Welt, um sich immer nur Gedanken
über andere zu machen.
Beschwingt
gleitet sie in einem hüpfenden Schritt die Holztreppe hinunter in die Küche. Zu
ihrer Überraschung trifft sie dort auf ihren Vater, der lässig am Tresen lehnt,
mit der aktuellen Tageszeitung in den Händen und die heutigen Börsenkurse
studierend.
„Guten Morgen,
Daddy“, begrüßt sie ihn lächelnd und erntet einen irritierten Blick. ‚Gut’ war
ein Morgen schon lange nicht mehr und ‚Daddy’ hat sie ihn zuletzt mit fünf
genannt. Er räuspert sich.
„Guten Morgen,
Liandra. Maria hat heute Morgen frische Pancakes gemacht, bevor sie einkaufen
gefahren ist.“
Maria ist ihre
spanische Haushälterin, Köchin und einfach Mädchen für Alles. Kurz: Die gute
Seele in ihrem Haus. Lia lächelt.
„Wie lieb von
ihr, aber ich habe gar keinen Hunger. Kann ich etwas von deinem Kaffee haben?“
Das Verhalten
seiner Tochter erscheint Mr. Green immer eigenartiger, sodass er die Zeitung
sinken lässt. „Es ist noch eine ganze Kanne da, nimm dir ruhig.“
Mit einem Becher
Kaffee lässt sich Lia auf den Stuhl gegenüber ihrem Vater gleiten und schaut
fröhlich hinaus in den schneebedeckten Garten, wo sie einen Vogel dabei
beobachtet, wie er den vereisten Boden nach Körnern absucht.
„Wie läuft es in
der Schule?“
„Ach, das wird
schon, ich arbeite dran. Wenn man sich wirklich Mühe gibt, kann man alles
schaffen.“
Vor Schock
verschluckt sich William Green an seinem Kaffee. Das Mädchen, welches ihm dort
gegenüber am Tisch sitzt, kann unmöglich seine pessimistische, stets
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