Schneesterben
nicht zornig, nicht laut. Er würde noch nicht einmal darauf bestehen, endlich zu seiner Frau vorgelassen zu werden.
Darum.
Er hatte heute nacht wieder geträumt. Es war ein Traum, der ihm vertraut war, der immer wieder kam, seit Jahren, wie ein Feriengast mit festen Gewohnheiten. Er träumte davon, die Weberstraße hinunterzugehen, am Laden von Oma Friedrich vorbei. An der Kreuzung ging es links. Dann unter der Unterführung hindurch. Dann den versteckten Weg hoch zum Wäldchen. Fliegen summten. Es war heiß. Plötzlich schob sich eine feuchte Kinderhand in seine. Dann hörte er Hanni lachen, irgendwo hinter seinem Rücken. Du tust es ja doch nicht. Du traust dich nicht. Du kannst nur schwätzen.
Thomas Regler gab sich einen Ruck und stand vom Küchentisch auf. Alle Muskeln schienen zu protestieren, er mußte völlig verkrampft dagehockt haben all die Stunden über. Dann ging er ins Schlafzimmer und packte die Reisetasche.
6
Klein-Roda
D er Besuch von Atilla Gümüs war das Ereignis des Tages. Die meisten kannten Atilla von klein auf – »als du gerade mal eben sooo hoch warst«, pflegte Gottfried zu sagen, wenn er den großgewachsenen Mann sah, und hielt dabei die Hand in Kniehöhe. Aber wenn er in amtlicher Funktion kam, wie Marianne es vornehm ausdrückte, war das etwas ganz anderes. Mit Gümüs’ Besuch wurde es offiziell: Krista Regler lag im Krankenhaus, und Thomas Regler war nicht aufzufinden.
»Vielleicht hat er sich etwas angetan?« Marie hatte den Straßenbesen an die Mauer gelehnt und sich auf die Bank unter der Linde gesetzt.
»Ach komm, Mariechen.« Gottfried tätschelte die Schulter seiner Frau mit liebevoller Belustigung.
»Der?« Christine legte tiefe Verachtung in die Stimme und zog das widerstrebende Töchterlein fest an sich heran.
»War die Post schon da?« Katja kam aus dem Nachbarhaus geschossen.
»Hast’ wieder was bestellt?« Gottfried lächelte scheinheilig. »Und was sagt die Haushaltskasse dazu?«
Katja stieg die Röte ins Gesicht. »Also Oppa«, sagte Marie und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.
In diesem Moment bog das gelbe Auto von Jens um die Ecke.
»Habt ihr schon gehört?« rief er durchs geöffnete Wagenfenster.
»Klar. Thomas Regler ist verschwunden. Gemüs’ war gestern da.«
»Stimmt. Aber das ist noch nicht alles.« Jens sortierte die Post und reichte Gottfried einen großen Umschlag und eine Postkarte durchs Fenster. Dann stieg er aus und öffnete die Ladeklappe.
»Mach’s nicht so spannend«, sagte Marianne, die mit einem leeren Eierkarton in der Hand hinzugekommen war.
»Man hat eine Leiche gefunden.«
Regler, dachte Bremer, und plötzlich tat ihm der Mann entsetzlich leid.
Katja nahm das große Paket in Empfang, das Jens aus dem Auto hob, und lief mit niedergeschlagenen Augen zurück ins Haus. »Hab’ ich’s nicht gesagt?« Gottfried lächelte anzüglich. Marie guckte strafend.
»Wo?« fragte Marianne.
»In einer Feriensiedlung bei Usingen. Der Mann muß schon eine ganze Weile da gelegen haben, unter dem Schnee.« Jens gab sich keine Mühe, zu verbergen, wie aufregend er die Vorstellung fand.
»Du meinst – tiefgefroren?« Auch Marianne schien die Idee anzuregen.
»Weiß man, wer es war?« Nicht Regler, wenn die Leiche schon länger dort lag, dachte Bremer. Andererseits – man hatte Regler seit gut einer Woche nicht mehr gesehen. Und Jens übertrieb gern.
Der Postbote zuckte die Schultern. »Die werden das schon noch rausfinden.« Er knallte die Heckklappe zu und stieg ein.
»Und was ist mit mir? Keine Karte, kein Brief, kein nichts?« Bremer war enttäuscht. Er wartete auf Post von seiner Lektorin, der er das letzte Kapitel geschickt hatte. Und eigentlich war längst wieder eine Karte von Anne fällig. Sie war, wenn er sich richtig erinnerte, zur Zeit in Rom. Bei einer Konferenz über… Na, was auch immer.
»Niente. Nada. Nix. Und tschüss.« Jens startete und fuhr los.
»Ich sag’ ja, er hat sich was angetan.« Wenigstens Marie schien die Vorstellung, daß es Thomas Regler sein könnte, der da einsam unterm Schnee gelegen hatte, zu erschüttern. Christine hatte ihr plärrendes Kind an die Hand genommen und außer Hörweite gebracht. Das Mädchen zeigte sich auf beunruhigende Weise interessiert am Thema »Tiefgefrorene Leiche«.
»Wir wissen doch gar nicht, ob er es wirklich ist!«
Aber Gottfried sah nicht aus, als ob er das bezweifelte.
»Und seine Frau liegt im Krankenhaus und erinnert sich an nichts!« Marie schüttelte den
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