Schneesterben
durch den Saal.
Hansen hob die Augenbraue und schaute in die Runde. »Sie glauben mir nicht? Sie meinen wohl immer noch, in Kinshasa putzten sich meine Kollegen und ich die Zähne mit Whiskey, weil die Qualität des Wassers nicht gut genug ist? Und sie spülten ja nur, sie schluckten den Alkohol nicht runter?« Hansen brach in ein tiefes und ungemein männliches Lachen aus. »Aber Sie glauben ja sicher auch, daß wir das Haschischpfeifchen mit unseren afghanischen Gesprächspartnern nur deshalb rauchen, weil sie uns sonst ihr Vertrauen nicht schenken.«
Diesmal lachte jemand im Publikum, verschüchtert noch.
»Nein, wir sind keine Helden. Wer sich freiwillig in die Gefahr begibt, die ein Job in den Konfliktzonen der Welt mit sich bringt, hat meistens einen Grund dafür. Da gibt es Leute, die sich vor den Unterhaltszahlungen für ihre Kinder drücken wollen. Oder die ihre Frauen verlassen möchten. Die kein Geld haben, die sich langweilen. Die vor ihrer Vergangenheit fliehen. Seien Sie äußerst mißtrauisch, wenn unsere Edelfedern behaupten, sie wollten den Menschen und der Wahrheit dienen.« Hansen hatte das Gesicht spöttisch verzogen.
»Die meisten von uns glauben keine einzige der gerade angesagten Wahrheiten. Sie glauben noch nicht einmal an das, was sie selbst erfunden haben. Es ist ihnen gleichgültig – so egal wie die Frage, ob sie leben oder sterben werden.«
»Aber wer sein Leben riskiert, um…« Man hatte dem Mann in der Jeansjacke angesehen, daß Hansens Zynismus ihn fassungslos machte.
»Sicher gibt es Helden unter uns. Die Hasenfüße. Die sind fast immer die Mutigsten.«
Zwei Frauen in der ersten Reihe guckten zum Mann in der Jeansjacke hinüber und nickten, als ob sie »Siehste!« sagen wollten.
Hansen lächelte beschwichtigend. »Natürlich ist der Job nervtötend – und zwar dann, wenn nichts passiert. Wer tagelang gewartet hat, im verdunkelten Hotelzimmer, wer wochenlang nichts tun konnte, sich nicht bewegen, nichts erleben durfte, der erfindet zur Not die Rührstory, auf die seine Redaktion und die Leute zu Hause gewartet haben.«
»Sie auch?« hatte ein ganz Vorwitziger unter den Männern gefragt.
»Ich schreibe keine Rührstories.« Jetzt gab es Applaus.
Bremer erwachte aus seinen Erinnerungen an Michael Hansen, als ihm jemand den Einkaufswagen in die Hacken rammte. Man hätte ihm auch freundlicher mitteilen können, daß er im Weg war. Die Frau musterte ihn vorwurfsvoll, während sie den mit Fertig und Tiefkühlgerichten beladenen Wagen an ihm vorbei Richtung Kasse schob. Was hat sie es denn so eilig? dachte Bremer. An der Supermarktkasse stand eine Schlange, wie fast immer um diese Tageszeit.
Er ging gemächlich hinter ihr her. Nach der Lesung von Michael Hansen war ein auserwählter Kreis noch mit dem Buchautor zur Pizzeria Montagne d’Ucello gegangen. Im Fortgehen hatte er Krista Reglers Gesicht gesehen, sanft gerötet, mit blitzenden Augen, wie sie auf Hansen einredete. Thomas Regler war seines Wissens nicht dabeigewesen.
Wieder blieb Bremer stehen und versperrte einer Mutter mit Kind den Weg. Er hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl.
Was war mit Krista? Gümüs hatte nicht viel erzählt, nur, daß Krista im Krankenhaus liege und Regler aus dem gemeinsamen Haus in Feldern verschwunden sei. Was war geschehen? Daß die Ehe nicht überschäumend glücklich war – nun, das war kaum zu übersehen. Sie war viel zu oft allein in ihr Häuschen gekommen, er habe keine Zeit, sagte sie, fragte man nach ihm, mit mildem Madonnenlächeln, so, als ob sie ihm das zu verzeihen hätte. Und Regler? Bremer sah sein weißes Gesicht unter dem dunklen Haarschopf vor sich, wie er »Krista!« murmelte, entgeistert, ungläubig. Und – zornig.
»Jetzt wird mir aber noch nicht vom Feierabend geträumt!« Die Kassiererin tat empört. Die Umstehenden lachten. Folgsam legte Bremer acht Flaschen Katzenmilch aufs Band, ein ansehnliches Sortiment von Döschen und Tütchen mit Futter für Nemax und zum Schluß, für sich, eine Packung Käse und ein halbes Brot. Und die Zeitung.
Die Gerüchteköche des Dorfes wußten auch nicht mehr. Krista liege im Koma, sagte Gottfried, das jedenfalls hatte die Bekannte des Neffen eines befreundeten Züchters erzählt. Nein, behauptete Marianne, Krista sei bei Sinnen, aber sie erinnere sich an nichts. Sie hatte das von einer Freundin, deren Tochter mit einem der Ärzte dort ausging. Der wußte auch, daß Thomas Regler schon seit einer Woche nicht mehr auf seiner
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