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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Gartentisch sitzen.
    Mit der Ruhe war es allerdings vorbei. Annamaria brüllte nach ihrem Sohn, Beckers nach dem Hund, Willi nach den Schweinen, die wieder mal nicht freiwillig in den Anhänger klettern wollten, mit dem sie die letzte Reise antreten sollten. Irgendeiner der kleinen Dorftyrannen plärrte, ein anderes Kind juchzte. Marianne schrie Willi hinterher, Gottfried rief Marie etwas zu, Carmen hörte schon wieder diese unendlich kitschige Platte, in der es, soweit Bremer richtig hörte, um Mutterliebe ging. Wie Tick, Trick und Track kurvten jetzt drei weitere unidentifizierbare Nachwuchstalente auf schnittigen Plastikgefährten über die Hauptstraße. Und dann brach, mit einem mächtigen Aufröhren, das schwerste Gerät der Landwirtschaft Klein-Rodas aus der Scheune. Willi saß hoch oben auf dem neuen tomatenroten Traktor und inspizierte die vollgesogenen Äcker.
    Anne, dachte Bremer für einen traumverlorenen Moment, als das Telefon klingelte. Aber es war Wilhelm. Bremer nahm das Telefon mit nach draußen und setzte sich seufzend wieder in die Sonne.
    »Und wie?« Der Ortsvorsteher war noch immer nicht »wiederhergestellt«, wie man hier sagte, und ob das jemals der Fall sein würde, wagte niemand zu prophezeien. Aber er rief täglich seinen Stellvertreter an, von seiner Kommandozentrale im Krankenhaus aus. »Geht’s endlich besser?« fragte Bremer.
    »Och nu ja.« Also nicht gut.
    »Was sagen die Ärzte?«
    »Weißte doch. Was die so sagen.« Das hörte sich besorgniserregend an.
    »Wann kommst du raus?«
    »Frag mich was leichteres.« Wilhelm klang mutlos.
    »Laß dir Zeit. Hast ja mich.« Er würde wohl noch eine ganze Weile den Hausmeister des Dorfes machen müssen.
    »Was ich sagen wollte, Paul.« Der Ortsvorsteher räusperte sich.
    »Ich höre.« Bremer legte die Beine auf den Gartentisch und lauschte der Stimme des alten Herrn und den Geräuschen des Dorfes – für die letzten paar Minuten, in denen er heute untätig sein durfte.
    »Im Bach unterhalb der Paulusmühle soll sich Gerümpel angesammelt haben. Man müßte mal die Gullys saubermachen, jetzt, wo es nicht mehr regnet. Mariechen hat angerufen, die Bank am Reinhardsweg…«
    Das Programm sah nach umfassendem Frühjahrsputz aus. Bremer wünschte Wilhelm von ganzem Herzen gute Besserung, ging nach oben, zog die Arbeitsklamotten an und machte sich ans Werk. Es lag eine seltsame Befriedigung in seinem neuen Dasein als nebenberuflicher Ortsvorsteher. Er fühlte sich plötzlich wie eingefädelt ins Gewebe der Gemeinschaft; bei der Ortsbeiratssitzung vor ein paar Wochen war er fast gar nicht mehr aufgefallen. Und dann das Wunder: Als er sich endlich etwas zu sagen traute, taten alle ganz normal – jedenfalls fehlte diese kaum merkliche kleine Pause, die ihm früher gezeigt hatte, daß er eine Grenze übertreten oder, vom Standpunkt der Eingeborenen aus, etwas unendlich Dummes gesagt hatte.
    Es war schrecklich: Er war integriert.
    Am frühen Nachmittag hatte er das Praktische erledigt und, wie ein Reisebischof, hier Trost und dort Segen gespendet. Zurück in Klein-Roda wollte er sich gerade ein Bier aus dem Kühlschrank holen, als von der Hauptstraße her eine triumphierende Fanfare erklang, dazu betäubend lauter Rap-Gesang. Ein dumpfes Klopfen ertönte und dann jenes unverkennbare Geräusch, das entsteht, wenn jemand in ein Mikrofon pustet, um zu hören, ob es auch eingeschaltet ist, ein Geräusch, das so alt sein dürfte wie die Erfindung des Verstärkers. So pflegte der alte Wilhelm stets die Dorfkirmes zu eröffnen.
    Ein großes grünes Etwas schob sich hinter Bremers Apfelbaum in sein Gesichtsfeld. Ein Bulldog wie aus dem Museum. Dahinter eine Art Planwagen. Und darauf stand, in dynamisch-gelben Lettern: »Moritz Marx. Die Alternative.«
    Bremer lachte so laut, daß Nemax erschrocken vom Pfosten sprang, auf dem er wie eine Statue gesessen und offenbar darauf gewartet hatte, daß einer der vielen haltlos vögelnden gefiederten Freunde die Kontrolle und den Sicherheitsabstand einbüßte.
    Die Bürgermeisterwahlen. Er hatte das fast vergessen.
    Moritz Marx, der anpassungssehnsüchtige Stadtflüchtling, heute einmal nicht in einem Exemplar aus seiner unerschöpflichen Sammlung klassischer peruanischer Lamawollpullover, grüßte huldvoll zu ihm herüber. Seit Bremer Wilhelms Aufgaben übernahm, versuchte Moritz in ihm einen Gleichgesinnten zu vereinnahmen, einen, der endlich die alte städtische Haut abgestreift hatte und sich voll und ganz ins

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