Schneesterben
wovon die Rede war. In diesem Moment war sein Zorn auf sie verraucht.
Sie konnte nichts dafür. Sie war auf einen Schönschwätzer hereingefallen, auch noch auf einen, der sich Kriegsberichterstatter nannte; der lebte von Lügen. Für Dampfplauderer hatte sie schon immer eine Schwäche gehabt. Als sie sich kennenlernten, war sie umgeben gewesen von Menschen und vor allem Männern, die zu glauben schienen, es spräche schon für einen guten Charakter, wenn man ganze Sätze bilden kann. Er hatte nie wirklich begriffen, warum sie sich damals für ihn entschieden hatte.
Sie hatte sich entschieden, nicht er. Nie hätte er sich getraut, die auffallende Frau mit den blauen Augen und den kurzen blonden Haaren anzusprechen, die Begehrteste im »Kupferkännchen«, einer Studentenkneipe, in die er manchmal ging, wenn er keinen Nachtdienst hatte und nicht schlafen konnte.
»Vielleicht habe ich ja mehr Verstand, als du glaubst?« hatte sie kokett gesagt, als er es Jahre später endlich wagte, sie zu fragen, warum sie einen wortkargen, schüchternen, streberhaften Medizinstudenten, der sich sein Studium selbst verdienen mußte, all den geistreichen Juristen und Geisteswissenschaftlern mit Geld und Auto vorgezogen hatte. Der keine vorzeigbaren Eltern hatte. Und erst recht keine vorzeigbare Herkunft. Und der ihr irgendwann gesagt hatte, er wolle alles mit ihr teilen – nur für die großen Worte müsse sie sich jemand anderen suchen.
Thomas versuchte, einen Lichtstrahl, einen Umriß, irgend etwas zu erkennen in der Dunkelheit der Zelle. Im nachhinein betrachtet, war Kristas Entscheidung nicht ganz so vernünftig gewesen. Erst hatten sie kein Geld gehabt. Und als er endlich ordentlich verdiente, keine Zeit. Er hatte immer gewußt, daß sie mehr wollte, als daß jemand verläßlich war und jeden Monat das Gehalt mit ihr teilte.
Mehr. Was immer das hieß.
Und plötzlich brannten ihm die Augen. Die Wahrheit war: Thomas Regler ist ein blasser, überarbeiteter Langweiler. Thomas Regler kennt sich nicht aus mit dem Leben. Thomas Regler hat kein Vorstellungsvermögen.
Thomas Regler ist treu wie Gold – und auch das nur aus Mangel an Phantasie und Gelegenheit.
Thomas Regler ist ein verdammt guter Kinderarzt, trumpfte sein letzter Rest Selbstbewußtsein auf.
War, dachte er. War.
Seine Hände krallten sich in das Kissen unter seinem Kopf, bis es weh tat. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn sie wenigstens Kinder gehabt hätten. Vielleicht fing das Unglück an dem Tag an, an dem sie gekündigt hatte, weil sie schwanger werden wollte. Von ihm. Und er hatte sich nicht getraut, ihr zu sagen, daß das eines der wenigen Dinge war, die er ihr nicht geben konnte.
Ich konnte es dir nicht sagen. Du wärst gegangen, Krista. Du hättest mich nie genommen. Vor allem, wenn du erfahren hättest, warum.
Jetzt sah er ihr Gesicht in der Dunkelheit, ganz deutlich, die Wangen gerötet, das blonde Haar zerzaust. Sie hat jeden Monat still gelitten, wenn es wieder mal nichts geworden ist, dachte er. Sie ist von einem Frauenarzt zum anderen gelaufen, voller Zweifel an sich selbst. Und ich – ich habe einen alten Studienkollegen für mich lügen lassen, als die Frage nach meiner Fruchtbarkeit anlag.
Versteh mich, Krista. Er versuchte im Dunkel der Zelle mit ihr zu argumentieren, etwas, das er stets vermieden hatte, solange noch Gelegenheit dazu war. Ich habe mir mit einer Unwahrheit ein paar Jahre mehr von einem Leben gestohlen, das ich nie für möglich gehalten hätte.
God only knows what I’d be without you.
Krista war das Wunder gewesen, das nicht vorgesehen war. Nicht für mich, dachte er. Endlich schlief er ein.
19
Klein-Roda
I m Dorfgemeinschaftshaus roch es nach der letzten Hochzeitsfeier. Paul Bremer riß die Fenster auf, rückte die Stühle zurecht und wartete auf Willi und Gottfried, die sich vor der Tür mit Werner Heise von der Freiwilligen Feuerwehr zu streiten schienen. Er hörte nur mit halbem Ohr hin. Erst als Willi »Das schafft der doch nie!« brüllte, merkte er, daß es weder um Politik noch um Sport, sondern um die Eigenschaften des neuen Geländewagens von Mercedes ging. Bislang war er davon ausgegangen, daß die dunklen Ungetüme mit dem chromblitzenden Bullenfänger anstelle einer Stoßstange nur für Städter interessant waren, die es als ultimativen Kick ansahen, damit sonntags zum Eierholen auf den Bauernhof zu fahren. Aber demnächst mußte man wohl auch hier im Dorf mit ihnen rechnen.
Bremer brauchte eine
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