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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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gedenken. Wenn ich Bürgermeister bin, wird es in Ebersgrund…«
    Bremer hörte den Rest des Satzes nicht mehr. Zu seiner Verblüffung wandten die Nachbarn dem Redner wie ein Mann den Rücken zu, stellten die Bierkrüge ab und ließen ihn und seine Wahlhelfer mitsamt Traktor und Planwagen und Faßbier in der Mitte des Dorfes stehen.
    Auch Paul drückte den noch halbvollen Krug dem netten, aber jetzt etwas besorgt guckenden Mädchen in die Hand und trat vorsichtshalber den Rückzug an.
    »Sture Säcke«, meinte er zu hören, bevor Moritz den Bulldog anwarf und mit seinem Häuflein Aufrechter das Dorf verließ.

18
    JVA Strang
    T homas Regler sah den Bau schon von weitem; die schnurgerade Straße durch blühende Wiesen und sattgrüne Felder führte direkt auf ihn zu: auf eine Festung aus Mauern und Stacheldraht und Wachttürmen. Wie früher an der Zonengrenze.
    Dann waren sie da. Das Tor glitt leise grollend zur Seite und schlug mit einem dumpfen Ton an. Er versuchte einen Blick zurück und spürte das erste Mal seit der Verhandlung so etwas wie Beklemmung. Das ist ab jetzt dein Leben, dachte er. Hier gehörst du hin. Die Zeit davor war ein Versehen des Schicksals.
    Der Warteraum, in den man ihn brachte, stank nach Zigarettenrauch. Auf der Bank saß ein magerer Junge mit blasser Haut und blondem Stoppelhaar, der an einer Selbstgedrehten zog und nicht aufsah, als Thomas hineingeführt wurde. Das sind deine neuen Kumpels, sagte eine innere Stimme höhnisch, aber er hatte keine Lust, sich neben den anderen Neuzugang zu setzen. Der Raum war schmal, immerhin gab es Toiletten. Die Türen beider Klos waren bekritzelt. Thomas versuchte, die Botschaften zu entziffern. »Ich war hier« schien den meisten eine Mitteilung wert zu sein, sofern er die Sprachen und Schreibweisen richtig entzifferte.
    Der Mann in der grünen Uniform, der ihn irgendwann holte, trug ein Funkgerät am Gürtel und zwei Schlüssel an einer Kette am Hosenbund, lange, solide wirkende Schlüssel mit Doppelbart. »Herr Dr. Regler«, sagte er und guckte suchend umher.
    Gewöhn’ dich an solche Witze, dachte Thomas und sagte: »Hier!«
    In der Kammer mußte er sich ausziehen und duschen. Ein stoppelköpfiger Bediensteter konfiszierte die persönlichen Wertgegenstände, die Brieftasche, den Füllfederhalter, das Diktiergerät, den Wohnungsschlüssel, trug die Sachen umständlich und in freier Auslegung der Rechtschreibregeln in eine Karteikarte ein und steckte alles in eine Tüte, die er mit einer Plombe verschloß und in den Tresor legte. Dann händigte er ihm seine Kleidung wieder aus und schickte ihn in den Nebenraum, wo zwei Männer Handtücher in ein großes Regal einsortierten. Der eine der beiden, ein blasser, hohlwangiger Typ in blauen Hosen und blauem Hemd, also ein Mitgefangener, teilte ihm Geschirr, Besteck, Handtücher und Bettzeug zu. Weiter ging es, einen Stock höher, zum Arzt. Der Mann in Grün stieß den großen Schlüssel geräuschvoll ins Schloß der Stahltür, durch die man ins Treppenhaus gelangte. Hinter ihnen ließ er die schwere Tür zufallen. Das Treppenhaus hallte wider vom Geräusch klirrender Schlüssel und zufallender Türen. Es war ein Geräusch, das jeder Kinogänger kannte. Thomas Regler fand das erste Mal seit Wochen etwas komisch.
    Der Arzt ging, wie alle, mit denen er zu tun hatte, routiniert und höflich zur Sache. Erst, als Thomas aus Versehen »Herr Kollege« sagte, hob der andere die Augenbraue und musterte ihn. Thomas spürte, wie sein Selbstvertrauen auf Däumlingsgröße schrumpfte. Dr. Regler existierte nicht mehr.
    Nach der Untersuchung – auf Läuse und Krätze, auf Diabetes, Hepatitis und Aids – brachte man ihn in eine Einzelzelle. Die Tür fiel hinter ihm zu, wie es sich gehörte. Der Schlüsselbund knallte gegen die Tür, als hinter ihm abgeschlossen wurde. Und dann war Stille.
    Regler packte die Handtücher aus und den Becher mit Zahnbürste, Zahnpasta und Rasierer. Die Zelle war sauber; er war in einem Knast gelandet, in dem man niemanden unnötig peinigte. Und wer weiß schon, für wie viele das hier das reine Luxusquartier ist, dachte er fromm – ein Gedanke, der nicht wirklich weiterhalf.
    Schließlich legte er sich auf das schmale Bett und versuchte, an etwas Tröstendes zu denken. Aber er sah nur eines. Er sah das Gesicht Kristas, als die Anwältin sie fragte, wie der Gegenstand denn wohl beschaffen gewesen sei, mit dem sie Hansen erschlagen habe. Er hatte sofort gewußt, daß sie keine Ahnung hatte,

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