Schneesterben
nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit gefolgt war. Als sie aufsah, sah sie Edith Manning triumphierend lächeln. Ein Mann hatte den Zeugenstand betreten, ein großer, schlaksiger Typ, der sein Tweedjackett trug, als ob er darin geboren wäre. Blond war der Kerl, mit langen, schmalen, weißen Fingern. Er sah nicht zu ihr herüber. Karen schloß für Sekunden die Augen. Gunter. Hätte er sie nicht warnen können?
Mit der Geschwindigkeit des Routiniers nannte er Namen, Geburtsdatum, Funktion. Carstens war ein disziplinierter Gerichtsmediziner. Deshalb war er ein beliebter Sachverständiger.
»Herr Sachverständiger, Sie haben die Leiche Michael Hansens am Freitag, dem 15. Februar, obduziert.«
»Das ist richtig. Zusammen mit Prof. Dr. Streuch.«
»Zu welchen Schlüssen sind Sie damals gekommen?« Carstens blätterte in seinen Unterlagen. »Im vorläufigen Gutachten werden lediglich Feststellungen über die Art und Schwere der Verletzungen getroffen, die Blut und toxikologischen Untersuchungen sowie eine DNA-Analyse sind nicht einbezogen.«
»Das ist uns bekannt.« Karen schickte einen sengenden Blick in seine Richtung, aber Carstens blickte nicht auf.
»Wir haben unter anderem Hämatome am Unterschenkel und gerissene Bänder im Kniebereich festgestellt sowie eine Impressionsfraktur des Schädels rechtsseitig.«
»Sind das Verletzungen, wie sie typischerweise mit einem Verkehrsunfall verbunden sind?« Edith Manning schnurrte fast bei ihrer Frage.
»Das Gesamtverletzungsbild stimmt mit einem Unfall überein, soweit ist das richtig, insbesondere die Tunnelimpression schädelseits. So sieht das meistens aus, wenn ein menschlicher Kopf mit der A-Säule eines Autos zusammenstößt.«
»Die A-Säule, das heißt…«
»Das ist die harte Seitenstrebe der Windschutzscheibe.«
Manning nickte. »Ob ein Unfall aber todesursächlich war…«
»Können wir nicht sagen. Der Mann ist an einem Schädeltrauma gestorben, das zumindest ist gewiß.«
»Nun steht in Ihrem Bericht…« Manning blätterte, als ob sie die Stelle suchte. »Hier ist es: Es seien Einsprengungen von Schmutz in die Kopfwunde festzustellen sowie Unregelmäßigkeiten an den Bruchkanten.« Sie guckte mit blitzenden Augen erst unmerklich zu Karen und dann zu Carstens hinüber. »Von einem zweiten Bruchspalt ist hier sogar die Rede.«
»In der Tat. Die Fraktur war nicht von der Eindeutigkeit, die man normalerweise vorfindet.«
»Könnte es sein, daß sie gar nicht von einem Zusammenprall mit der A-Säule eines Autos stammt?«
Carstens fuhr sich mit der Hand durch das wirre blonde Haar. Karen spürte die Erinnerung an seine Haare noch an den Fingerspitzen. Sie schwankte kurz, ob sie gekränkt sein sollte oder wütend. Sie entschloß sich für Beleidigtsein.
»Vielleicht. Andererseits ist die Grundform der Verletzung damit durchaus kompatibel.«
Karen war blitzschnell aufgestanden. »Frau Vorsitzende, die Angeklagte hat gestanden, den Toten mit dem Auto ihres Mannes…«
Edith Manning hob beschwichtigend die Hände.
»Sehr geehrte Vertreterin der Anklage, ich frage ja nur, weil die Schäden, die an besagtem Auto festgestellt wurden, nicht ganz zur Schwere der Verletzungen des Toten zu passen scheinen.«
Karen setzte sich. Sie atmete viel zu schnell und begann, ihre Ruhe zu verlieren. Verdammt, dachte sie.
Die Verteidigerin lächelte und blickte dann wieder zu Gunter Carstens hinüber. »Wäre es denn immerhin denkbar, Herr Sachverständiger, daß der einen Verletzung durch die A-Säule des Autos eine andere folgte? Wie auch immer geartet, durch was auch immer verursacht?« Carstens wiegte den Kopf und schien nachzudenken. Karen merkte, daß er angespannt war. Hatte die Manning etwas gefunden, das sie übersehen hatte? Sie blätterte in der Akte nach dem Sektionsprotokoll. Da war die Anzeigenaufnahme der Polizei. Dann der gelbe Leichenschauschein. Dann das Protokoll mit dem vorläufigen Gutachten am Schluß. Und dann Punkt II.
»So etwas wäre doch sicherlich feststellbar?« Edith Manning faßte nach.
»Unter Umständen ja.« Carstens sprach jetzt sehr langsam. »Jedenfalls dann, wenn der Tote nach der ersten Kopfverletzung noch gelebt hat.«
»Ob Sie so liebenswürdig wären und uns das einmal erläutern?« Edith Manning sah zur Vorsitzenden Richterin hinüber. Auch die war sichtlich interessiert. Karen beschloß einen vorläufigen taktischen Rückzug.
»Der Organismus beginnt nach jeder Verletzung mit der Wundheilung. Wäre der Tote nicht
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