Schneewittchens Tod
Chib auf eine Sprosse, schob die Füße unter die nächste, breitete die Arme nach hinten aus, stemmte sie, zu beiden Seiten des Fensters, gegen die Außenmauer. Gaelle sprach mit Eunice, deutete auf Chib. Die Kleine schüttelte den Kopf. Plötzlich aber begann sie, auf allen vieren über die Leiter zu krabbeln. Chib widerstand der Versuchung, die Augen zu schließen. Sie würde fallen. In den Glutofen fallen. Sie kam langsam näher, Sprosse für Sprosse, das Gesicht tränenüberströmt, die Augen auf Chib gerichtet, der sie mit sanfter Stimme ermutigte.
Unter ihm das feurige Flüstern der Flammen, ihr gieriges Knistern, die obszönen Verrenkungen ihrer Zungen. Er sah, wie sie sich an Elilous Sarg drängten, lange an ihm leckten, versuchten, ihre glühenden Finger hineinzustecken, und plötzlich explodierte der Sarg, so dass die Splitter in alle Richtungen flogen, und die Flammen machten sich über den leblosen Körper her, bedeckten ihn mit brennenden Küssen. Er sah, wie das tote Fleisch Blasen warf, das Haar Feuer fing. Kleid und Samtkissen - Elilou war nur noch eine Fackel, die einen grässlichen Gestank nach Formalin verbreitete. Ihre weit geöffneten Augen starrten weiter ins Leere. Wie in einer dramatischen Szene mit Theaterdonner und Rauchentwicklung sah er Belle-Mamie mit den Armen rudern, eine Hand an den Hals heben, an dem ein Glassplitter glitzerte, und dicht neben einem halb verkohlten Betstuhl zu Boden stürzen; er sah das Blut über den Boden fließen, die Flammen an dem Blut züngeln - unpassendes Bild von einer flambierten Crepe -, dann hüllte sich auch Belle-Mamie in ein glühendes Leichentuch.
Eunice! Sie war fast bei ihm angelangt. Er wagte nicht, ihr die Arme entgegenzustrecken, aus Angst, die Leiter könnte abrutschen, er musste warten, bis sie das äußere Ende erreicht hatte. Geschafft, sie legte die Hände auf den Stein, das Kinn mit Rotz bedeckt, »kriech hinter mich, so ist es gut, setz dich, schau, da unten ist deine Mutter, gleich klettern wir zu ihr hinunter«.
Andrieu hatte mit Annabelle Zeit verloren, denn sie wehrte sich, wahnsinnig vor Angst, und Chib sah, wie der Vater die erhobene Faust auf den Kopf des Mädchens sausen ließ, um sie zu betäuben. Dann warf er sie über die Schulter und begann erneut, nach oben zu klettern. Dubois, der unbewegt hinter dem Altar stand, schien zu beten, die Augen geschlossen, immer wieder von heftigen Hustenanfällen geschüttelt. Andrieu war fast oben angelangt, als auch der Christus Feuer fing. Und jetzt war Chib ganz sicher, dass alles von Benzin durchtränkt war. Ein geplanter Kollektivmord. Höhepunkt dieses Pandämoniums. Das spektakuläre Finale des von einem schizoiden Geist ersonnenen Dramas.
Die Flammen hatten zunächst die Füße des Gekreuzigten angegriffen, waren dann auf seine Knie übergesprungen, hatten schließlich seinen Lendenschurz erfasst und züngelten jetzt an seiner blutenden Seite.
Andrieu warf einen einzigen Blick unter sich, spürte die Hitze des Feuers an seinen Sohlen und stieß das Kind mit einer letzten Anstrengung hin zu Gaelle, die es gerade noch zu fassen bekam.
Dann versuchte er, zur Seite auszuweichen, doch sein Hosenbein hatte Feuer gefangen, er drängte sich an die Wand, um die Flammen zu ersticken, erfolglos. Er versuchte, mit einer Hand das brennende Kleidungsstück abzustreifen, verlor den Halt und fiel. Einen Atemzug später war er nur noch ein Korken in einem tobenden Meer aus zinnoberfarbenen Wellen.
Dubois öffnete die Augen. Er wandte sein gerötetes Gesicht zu Chib, schrie etwas wie »Ich hab's doch gesagt!«. Es war so viel Rauch um ihn herum, dass er kaum noch Luft bekam. Er wird ersticken, dachte Chib. Ihm gegenüber, auf seiner Höhe, hustete sich Gaelle halb die Lungen aus dem Leib, und die Flammen, die den Christus verschlangen, schlugen fast bis zu ihr hinauf. Sie brüllte ihm zu, Annabelle zu holen.
Wie viel Zeit, um sich zu entscheiden? Eine Zehntelsekunde? Bis er mit Annabelle zurückkäme, hätten die Flammen Gaelle erreicht. Er würde sie sterben sehen, zusammengekauert in ihrer Nische. Er schüttelte den Kopf. »Nein, komm du!«, brüllte er zurück, »Komm!« Sie starrten sich durch den Vorhang aus Rauch, den Gestank nach Formalin und verbranntem Fleisch an und wussten beide genau, was auf dem Spiel stand. Das Kind retten oder Gaelle retten. Eine unmögliche Wahl.
»Komm mit ihr!«, brüllte er weiter. »Schnell!« Und er zog es plötzlich vor, sie beide sterben und hinabstürzen
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