Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
körperliche Aktivierung durch den Spaziergang zu einer größeren geistigen Agilität führt.
System 2 hat ebenfalls eine natürliche Geschwindigkeit. Man wendet ein wenig mentale Energie für zufällige Gedanken auf und dafür, zu erfassen, was um einen herum vor sich geht, auch wenn man geistig nicht auf eine bestimmte Aufgabe konzentriert ist, aber die Beanspruchung ist gering. Sofern man sich nicht in einer Situation befindet, die einen ungewöhnlich wachsam oder verlegen macht, muss man sich nicht besonders anstrengen, um zu erfassen, was in der Umgebung oder im Kopf geschieht. Man trifft viele kleine Entscheidungen, wenn man Auto fährt, beim Lesen der Zeitung Informationen aufnimmt und mit einem Partner oder Kollegen Artigkeiten austauscht – dies alles mit geringer Anstrengung und ohne Druck. Wie bei einem Spaziergang.
Es ist normalerweise leicht und sogar recht angenehm, spazieren zu gehen und gleichzeitig nachzudenken, aber im Extremfall scheinen diese Aktivitäten um die begrenzten Ressourcen von System 2 zu konkurrieren. Sie können diese Behauptung durch ein einfaches Experiment selbst überprüfen. Während Sie in gemütlichem Tempo mit einem Freund spazieren gehen, bitten Sie ihn, 23 × 78 im Kopf zu berechnen, und zwar sofort. Er wird höchstwahrscheinlich unvermittelt stehen bleiben. Bei mir ist es so, dass ich beim Spazieren zwar
nachdenken, aber keine mentale Arbeit verrichten kann, die das Kurzzeitgedächtnis stark beansprucht. Wenn ich eine komplizierte Beweisführung unter Zeitdruck entwickeln muss, würde ich mich lieber nicht bewegen, und ich würde lieber sitzen als stehen. Natürlich erfordert nicht jedes langsame Denken diese Form von intensiver Konzentration und anstrengender Berechnung – die besten Einfälle meines Lebens hatte ich auf gemütlichen Spaziergängen mit Amos. Wenn ich nicht mehr schlendere, sondern einen Schritt zulege, verändert dies völlig mein Erleben des Spazierens, weil der Wechsel in eine schnellere Gangart zu einer deutlichen Verschlechterung meiner Fähigkeit führt, zusammenhängend zu denken. Wenn ich beschleunige, richtet sich meine Aufmerksamkeit immer häufiger auf die Erfahrung des Gehens und auf die absichtliche Aufrechterhaltung eines höheren Tempos. Meine Fähigkeit, einen Gedankengang zu einem Abschluss zu bringen, ist entsprechend beeinträchtigt. Bei der höchsten Geschwindigkeit, die ich in dem hügeligen Gelände durchhalten kann, etwa 14 Minuten für 1,6 Kilometer, versuche ich erst gar nicht, an etwas anderes zu denken. Zusätzlich zu der physischen Anstrengung, die damit verbunden ist, meinen Körper zügig fortzubewegen, ist eine mentale Anstrengung der Selbstkontrolle erforderlich, um dem Impuls zu widerstehen, langsamer zu gehen. Selbstkontrolle und bewusstes Denken schöpfen anscheinend aus dem gleichen begrenzten Budget mentaler Arbeitskraft.
Die Aufrechterhaltung einer zusammenhängenden Gedankenführung und gelegentliches anstrengendes Nachdenken verlangen von den meisten von uns in aller Regel ebenfalls Selbstkontrolle. Obgleich ich keine systematische Studie durchgeführt habe, vermute ich, dass häufiger Aufgabenwechsel und beschleunigte mentale Arbeit nicht per se angenehm sind und dass Menschen sie, wenn möglich, vermeiden. So wird das Gesetz der geringsten Anstrengung zu einem Gesetz. Selbst bei fehlendem Zeitdruck erfordert die Aufrechterhaltung einer kohärenten Gedankenführung Disziplin. Jemand, der mir dabei zusähe, wie oft ich während einer Stunde, in der ich schreibe, in meinem E-Mail-Account nachsehe oder den Kühlschrank inspiziere, könnte zu dem nachvollziehbaren Schluss gelangen, dass ich mich gern ablenke und dass es mehr Selbstkontrolle von mir verlangt, als ich problemlos aufbringen kann, diesem Impuls zu widerstehen.
Glücklicherweise löst kognitive Arbeit nicht immer die Tendenz aus, ihr auszuweichen, und manchmal strengen sich Menschen über längere Zeiträume intensiv an, ohne dafür Willenskraft aufwenden zu müssen. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi (ausgesprochen wie »Six-Cent-Mihaly«) hat mehr als jeder andere getan, um diesen Zustand der mühelosen geistigen Versenkung zu
erforschen, und der Name, den er dafür vorschlug, »Flow«, hat sogar Eingang in die Alltagssprache gefunden. Menschen, die einen Flow erleben, beschreiben diesen als »einen Zustand der mühelosen Konzentration, der so tief ist, dass sie ihr Gefühl für die Zeit, für sich selbst und für ihre Probleme verlieren«, und
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