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Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
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ihre Beschreibungen der Freude, die sie in diesem Zustand empfinden, sind so bezwingend, dass Csikszentmihalyi den Flow als eine »optimale Erfahrung« bezeichnet hat. 1 Viele Aktivitäten können ein Gefühl des Flows auslösen, angefangen vom Malen bis zur Teilnahme an Motorradrennen – und für einige glückliche Autoren, die ich kenne, ist selbst das Schreiben eines Buches oftmals eine optimale Erfahrung. Flow trennt fein säuberlich zwischen den beiden Formen der mentalen Anstrengung: Konzentration auf einen Aufgabe und bewusste Aufmerksamkeitssteuerung. Ein Motorrad mit 240 Stundenkilometern fahren und an einer Schachmeisterschaft teilnehmen sind zweifellos mental sehr anstrengende Tätigkeiten. In einem Flow-Zustand jedoch erfordert die Aufrechterhaltung der auf diese absorbierenden Aktivitäten fokussierten Aufmerksamkeit keinen Akt der Selbstkontrolle, wodurch Ressourcen freigesetzt werden, die für die anstehende Aufgabe verwendet werden können.

Das ausgelastete und erschöpfte System 2
    Es ist heute gängige Lehrmeinung, dass sowohl Selbstkontrolle als auch kognitive Anstrengung Formen mentaler Arbeit sind. Etliche psychologische Studien haben gezeigt, dass Menschen, die gleichzeitig mit einer anspruchsvollen kognitiven Aufgabe und mit einer Versuchung konfrontiert sind, eher der Versuchung nachgeben. Stellen Sie sich vor, Sie sollen sich eine Liste mit sieben Ziffern eine oder zwei Minuten lang einprägen. Man sagt Ihnen, das Einprägen der Ziffern habe für Sie oberste Priorität. Während Ihre Aufmerksamkeit auf die Ziffern gerichtet ist, werden Ihnen zwei Nachspeisen angeboten: ein sündhafter Schokoladenkuchen und ein tugendsamer Obstsalat. Die empirischen Befunde sprechen dafür, dass Sie eher den verlockenden Schokoladenkuchen auswählen werden, wenn Ihr Gehirn mit Ziffern beschäftigt ist. System 1 hat mehr Einfluss auf das Verhalten, wenn System 2 beschäftigt ist, und es hat eine Schwäche für Süßes. 2
    Menschen, die kognitiv ausgelastet sind, treffen auch eher egoistische Entscheidungen, verwenden sexistische Ausdrücke und fällen in sozialen Situationen oberflächliche Urteile. 3 Das Auswendiglernen und Aufsagen von Ziffern
lockert die Kontrolle von System 2 über das Verhalten, aber natürlich ist die kognitive Belastung nicht der einzige Grund für eine geschwächte Selbstkontrolle. Ein paar Drinks haben die gleiche Wirkung, ebenso eine schlaflose Nacht. Die Selbstkontrolle von Morgenmenschen ist nachts beeinträchtigt; das Umgekehrte gilt für Nachtmenschen. Wenn man sich allzu viele Gedanken darüber macht, wie gut man eine Aufgabe erledigt, beeinträchtigt dies manchmal die Leistungsfähigkeit, weil das Kurzzeitgedächtnis von sinnlosen und sorgenvollen Gedanken überflutet wird. 4 Die Schlussfolgerung ist einfach: Selbstkontrolle erfordert Aufmerksamkeit und Anstrengung. Man kann es auch anders formulieren: Gedanken und Verhaltensweisen zu kontrollieren ist eine der Aufgaben, die System 2 ausführt.
    Der Psychologe Roy Baumeister und seine Kollegen haben in einer Reihe überraschender Experimente den schlüssigen Nachweis erbracht, dass alle Spielarten willentlicher Anstrengung – kognitive, emotionale oder physische – zumindest teilweise aus einem gemeinsamen Pool mentaler Energie schöpfen. Bei ihren Experimenten haben sie sukzessive und keine simultanen Aufgaben verwendet.
    Baumeisters Gruppe hat wiederholt festgestellt, dass Willensanstrengung oder Selbstkontrolle ermüdend ist; wenn man sich zu einer Handlung zwingen muss, ist man weniger gewillt oder imstande, Selbstkontrolle auszuüben, wenn sich die nächste Herausforderung stellt. Das Phänomen wird »Ego-Depletion« (»Selbsterschöpfung«) genannt. In einem typischen Experiment schneiden Versuchspersonen, die aufgefordert werden, ihre emotionale Reaktion auf einen emotional aufgeladenen Film zu unterdrücken, später bei einem Test ihrer körperlichen Ausdauer – wie lange können sie trotz wachsenden Unbehagens einen Kraftmesser fest im Griff behalten – schlecht ab. Die emotionale Anstrengung in der ersten Phase des Experiments verringert die Fähigkeit, die Schmerzen anhaltender Muskelkontraktion zu ertragen, und aus diesem Grund erliegen »selbsterschöpfte« Menschen eher dem Impuls, aufzugeben. In einem anderen Experiment wird die selbstregulatorische Energie der Versuchspersonen zunächst durch eine Aufgabe erschöpft, bei der sie tugendhafte Nahrungsmittel wie Rettich und Sellerie verspeisen, während

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