Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
Dollar-Angaben sollten um die etwa 100-prozentige Inflation seit der Erhebung dieser Daten im Jahr 1984 bereinigt werden):
Ein kleiner Copyshop hat einen Mitarbeiter, der dort seit sechs Monaten für 9 Dollar Stundenlohn arbeitet. Die Geschäfte laufen weiterhin zufriedenstellend, aber eine kleine Fabrik in der Nähe hat dichtgemacht, und die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Andere kleine Läden haben gerade zuverlässige Mitarbeiter für einen Stundenlohn von 7 Dollar eingestellt, um ähnliche Aufgaben zu erfüllen wie der Angestellte des Copyshops. Der Besitzer des Ladens kürzt den Lohn des Beschäftigten auf 7 Dollar.
Die befragten Personen billigten dies nicht: 83 Prozent beurteilten dieses Verhalten als »unfair« oder »sehr unfair«. Eine geringfügige Abwandlung der Frage verdeutlicht das Wesen der Verpflichtung des Arbeitgebers. Das Hintergrundszenario eines profitablen Ladens in einer Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit ist das gleiche, aber jetzt
kündigt der gegenwärtige Mitarbeiter, und der Besitzer beschließt, seinem Nachfolger 7 Dollar pro Stunde zu zahlen.
Eine große Mehrheit (73 Prozent) hielt diesen Schritt für »akzeptabel«. Offenkundig hat der Arbeitgeber keine moralische Pflicht, 9 Dollar pro Stunde zu zahlen. Der Anspruch ist personengebunden: Der gegenwärtige Mitarbeiter hat einen Anspruch darauf, seinen Lohn zu behalten, auch wenn es die Marktbedingungen dem Arbeitgeber erlauben würden, eine Lohnkürzung durchzusetzen. Der neue Mitarbeiter hat keinen Anspruch auf den Referenzlohn seines Vorgängers, und daher kann der Arbeitgeber den Lohn kürzen, ohne Gefahr zu laufen, als unfair gebrandmarkt zu werden.
Die Firma hat ihren eigenen legitimen Anspruch, der darin besteht, ihren gegenwärtigen Gewinn aufrechtzuerhalten. Wenn ihr ein Verlust droht, darf sie den Verlust auf andere abwälzen. Eine große Mehrheit der Befragten hält es nicht für unfair, wenn eine Firma bei sinkenden Gewinnen die Löhne ihrer Mitarbeiter kürzt. Wir beschrieben die Regeln so, dass sie zweifache Ansprüche definierten, nämlich sowohl die der Firma wie die der Personen, mit denen sie interagiert. Wenn sie selbst gefährdet ist, ist es von der Firma nicht unfair, sich egoistisch zu verhalten. Es wird von ihr nicht einmal erwartet, einen Teil der Verluste zu übernehmen; sie kann diese abwälzen.
Unterschiedliche Regeln legen fest, was ein Unternehmen tun darf, um seine Ertragslage zu verbessern oder einen Gewinnrückgang zu vermeiden. Wenn ein Unternehmen seine Produktionskosten senkt, gebieten es die Regeln
der Fairness nicht, dass es den unerwarteten Geldsegen mit seinen Kunden oder seinen Mitarbeitern teilt. Selbstverständlich fanden die von uns befragten Personen eine Firma sympathischer und bezeichneten sie als fairer, wenn sie sich bei einem Gewinnanstieg großzügig zeigte, aber sie brandmarkten eine Firma, die nicht teilte, nicht als unfair. Sie zeigten sich nur dann empört, wenn eine Firma ihre Macht ausnutzte, um informelle Verträge mit Mitarbeitern oder Kunden zu brechen und um anderen zum Zweck der Gewinnsteigerung einen Verlust aufzuerlegen. Die wichtige Aufgabe für Wissenschaftler, die ökonomische Fairness erforschen, besteht nicht darin, ideales Verhalten zu identifizieren, sondern die Linie zu finden, die akzeptables Verhalten von Handlungsweisen trennt, welche zu sozialer Brandmarkung und Bestrafung führen.
Wir waren nicht besonders optimistisch, als wir unseren Aufsatz über dieses Forschungsprojekt bei der American Economic Review zur Veröffentlichung einreichten. Unser Artikel stellte die damals herrschende ökonomische Lehrmeinung infrage, wonach wirtschaftliches Handeln von Eigennutz bestimmt wird und Fairnesserwägungen im Allgemeinen irrelevant sind. Wir stützten uns auch auf Erhebungsdaten, von denen Ökonomen im Allgemeinen wenig halten. Der Herausgeber des Journals sandte unseren Artikel zur Begutachtung jedoch zwei Ökonomen zu, die frei von solchen konventionellen Vorurteilen waren (wie erfuhren später ihre Identität; sie waren die wohlwollendsten, die der Herausgeber hätte finden können). Der Herausgeber wählte die richtigen Gutachter aus. Der Artikel wird häufig zitiert, und seine Schlussfolgerungen hatten langfristig Bestand. Neuere Forschungen haben die Beobachtungen zur referenzabhängigen Fairness bestätigt und darüber hinaus gezeigt, dass Fairnessaspekte ökonomisch bedeutsam sind – eine Tatsache, die wir vermutet, aber nicht bewiesen hatten. 14
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