Schnitt: Psychothriller
wie ein Metronom, das ihrem Herz und ihrem Kopf diktierte, nur ja immer weiterzugehen.
Der erste Mensch, der ihr entgegenkam, war eine Frau mit einem kleinen Mädchen von etwa fünf Jahren an der Hand. Die Kleine war das Ebenbild ihrer Mutter, mit weit auseinanderstehenden Augen und langen blonden Haaren, die am Hinterkopf zu einem ordentlichen Knoten geflochten waren.
Liz zitterte vor Erleichterung. »Bitte helfen Sie mir«, bat sie. »Ich muss zur Polizei.«
Die Frau blieb wie angewurzelt in einigem Abstand stehen und sah Liz mit offenem Mund an. »Was ⦠ist denn mit Ihnen passiert?«
Liz schluckte mühsam, schüttelte nur langsam den Kopf und wiederholte: »Bitte, ich möchte einfach nur zur Polizei.«
Das Mädchen beäugte Liz von unten und zog kräftig an der Hand ihrer Mutter. Der Blick der Frau wanderte an Liz hinab und blieb an ihrem rundlichen Bauch hängen. Dann nickte sie. »Kommen Sie, ich bring Sie zum Bahnhof. Sie müssen eine Station fahren, die Kantonspolizei ist in Andermatt.«
»Danke«, nickte Liz und tappte der akkurat gekleideten Schweizerin hinterher. Unter den Blicken im Dorf kam sie sich vor wie eine verlauste Bettlerin. Die Tochter drehte sich immer wieder nach ihr um. Eine Mischung aus Ekel und Verunsicherung lag in ihrem Blick. Liz konnte es ihr nicht verübeln. Mühsam lächelte sie ihr zu. »Einen schönen Dutt hast du da«, sagte sie leise.
Die Kleine sah sie an, mit einer dicken Falte auf der Stirn.
»Ich meine den Knoten«, sagte Liz, »die Haare«, und deutete auf ihren Kopf.
Das Mädchen wich ihrer Hand aus, als wäre Liz aussätzig, und wandte sich von ihr ab.
»Wir sagen hier Huppi, nicht Knoten«, sagte die Mutter.
Huppi . Liz wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Der Dorfbahnhof war ein schlichter Bau mit sechs Sprossenfenstern und einem Spitzdach, dahinter lag ein einsamer Bahnsteig.
Die Frau, von der sie noch nicht einmal den Namen wusste, schaute für sie im Fahrplan nach. »Der Zug ist in zehn Minuten da.« Unsicher sah sie Liz an. Das Mädchen zog wieder an ihrer Hand. »Haben Sie Geld?«
Liz schüttelte den Kopf. Die Frau drückte ihr zwanzig Franken in die Hand, lächelte, diesmal weniger steif, und warf ihrer Tochter, die immer noch an ihrer Hand zog, einen giftigen Blick zu. »Entschuldigung«, murmelte sie. »Schaffen Sie das alleine? Ich glaub, meine Kleine â¦Â«
»Schon gut«, sagte Liz. »Sie haben mir sehr geholfen.«
Der Zug fuhr mit einem dunklen Rumpeln in den Bahnhof. Die Bremsen kreischten so durchdringend, dass Liz sich die Ohren zuhielt. Jedes Geräusch schien direkt in ihr Innerstes vorzudringen, als hätte sie nichts mehr, um die AuÃenwelt zu filtern.
Wie in Trance stieg sie in den Zug ein. Sie machte sich noch nicht einmal Gedanken, dass er ja vielleicht auf die Idee kommen könnte, dass sie mit dem Zug floh.
Als die Landschaft um sie herum in Bewegung kam, an ihr vorbeiflog und das gleichmäÃige Schlagen der Räder in ihr Bewusstsein kroch, kamen ihr wieder die Tränen. Jede Faser ihres Körpers schmerzte, vor Hunger war ihr schwindelig.
Abwesend starrte sie aus dem Fenster; das DrauÃen zerfloss zu langen Streifen. Als der Schaffner der SBB sie nach der Fahrkarte fragte, suchte sie verwirrt nach dem 20-Franken-Schein, den ihr die Frau gegeben hatte. Doch das Geld war weg. Offenbar hatte sie es noch auf dem Bahnsteig verloren. »Ich ⦠ich hatte vorhin«, stammelte sie, »da war noch ⦠Entschuldigung.« Sie schluckte und versuchte, sich zusammenzureiÃen. »Es tut mir leid. Bitte helfen Sie mir. Ich bin entführt worden. Ich ⦠ich muss zur Polizei.«
In Andermatt warteten dann bereits zwei Polizisten auf sie. Der Schaffner übergab sie dankbar in deren Gewahrsam â eine verwirrte schwangere Frau ohne gültigen Fahrausweis, die unzusammenhängend von einer Entführung phantasierte.
Liz war erleichtert. Zunächst.
Auf dem Revier brach sie zusammen, bekam dann eine dicke Schweizer-Armee-Decke, endlich etwas zu essen und zu trinken und durfte sich auf der Toilette notdürftig waschen. Als sie ihr Spiegelbild sah, zuckte sie zusammen. Nicht schon wieder , dachte sie. Nicht schon wieder heulen, verdammt!
Dann kamen die Fragen.
»Wie ist noch einmal Ihr Name bitte?«
»Anders. Liz Anders, aus Berlin. Ich bin
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