Schnitt: Psychothriller
gehören zum Kino, über einem Eingang mit in Messing gefassten Glastüren hängt die Programmtafel, darüber der neonrote Schriftzug Rex aus den siebziger Jahren; ein paar Meter weiter links ist der Hauseingang für die darüberliegenden Stockwerke.
Gabriel klingelt im obersten Stockwerk bei Verena Schuster und wartet eine Weile.
Nichts regt sich.
Rasch drückt er die unterste Klingel.
»Ja, werâs da?«, schnarrt eine mürrische und undefinierbare Stimme aus der Sprechanlage.
»Post«, sagt Gabriel.
Der Türöffner brummt. Es klingt kaputt.
»Danke!«, ruft Gabriel. Seine Stimme hallt durch den Hausflur. Er steigt die Treppe hinauf ins oberste Stockwerk, in dem es nur eine Tür gibt. Ãber ein stumpfes Namensschild ist mit Tesafilm ein Papierstreifen geklebt, auf dem in windschiefen Buchstaben »Schuster« steht. Ein unangenehmer Geruch hängt vor der Tür.
Gabriel rüttelt kurz am Knauf, dann schiebt er einen dünnen Plastikstreifen zwischen Rahmen und Türblatt, drückt den Schnapper ins Schloss und öffnet behutsam die Wohnungstür, nicht mehr als einen Spaltbreit.
Er hält den Atem an, lauscht, wartet.
Nichts.
Lautlos schiebt er sich in den düsteren Flur der Wohnung. Auf der Raufasertapete und an der Decke klebt eine gelbliche Nikotinschicht. Rechts hängen drei gerahmte Fotos an der Wand, zwei von einem etwa Siebenjährigen, der angestrengt lächelt, das dritte Bild zeigt denselben Jungen, nur deutlich älter. Am Kopfende des Flurs quillt Tageslicht aus einer offenen Tür, hinter der anscheinend die Küche liegt. Das wütende Summen von Insekten ist zu hören. Die Holzbohlen knarren unter dem verfilzten Teppichboden, während Gabriel sich langsam der Küchentür nähert. Es riecht nach schlechtem Essen und verdorbenem Fleisch, widerwärtig und süÃlich. Gabriel kennt den Geruch und weiÃ, wie lange er einem nachhängt. Er hatte ihn schon mehr als einmal in der Nase.
Er tritt in das helle Rechteck aus Licht und dann widerwillig über die Schwelle. Die Küche misst etwa drei mal vier Meter. Gegenüber der Tür ist ein breites Fenster mit einer altmodischen, früher sicher einmal weiÃen Gardine, die im Luftzug des gekippten Fensters weht. Der Küchentisch steht mitten im Raum. Auf der Tischplatte liegt eine Frau, vielleicht fünfzig Jahre alt, auf dem Rücken. Ihre Beine hängen über die Vorderkante des Tisches, ihre Arme ragen links und rechts über die Platte, der Kopf ist nach hinten über die Kante gekippt, der Hals ist überstreckt, und der Kehlkopf sticht heraus, gleich einem Dorn, der die Haut durchstoÃen will.
Es sieht aus, als hätte jemand ein viel zu groÃes Tier auf einen viel zu kleinen Seziertisch gelegt.
Ihr Kleid ist, so wie ihre übrige Kleidung, aufgeschnitten, und die Stoffteile sind wie Hautlappen beiseitedrapiert, so dass sie nackt, mit gespreizten Beinen, vor Gabriel liegt.
Er drückt unwillkürlich die Hand vor Mund und Nase, spürt den Drang, aus dem Zimmer zu rennen, doch er kann den Blick nicht lösen, starrt auf die Mitte des bleichen, wächsernen Körpers der Frau.
Ein Schnitt â tief und scharf â entspringt an ihrer Vagina, ist von dort aufwärts durch die Haut gezogen, über das Schambein hinweg. Durch den Unterleib. Durch die Bauchdecke. Bis hinauf zum Brustbein.
Durch Gabriels Kopf jagt eine Stichflamme, ein greller Blitz, so unvermittelt, als wäre eine Granate unter seiner Schädeldecke detoniert. Ein wirrer Strudel von Bildern rast umeinander, keines davon lange genug, um es festzuhalten. Für einen verstörenden Moment hat er das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, aber nicht an der Schwelle der Tür, sondern am Fenster. Als hätte er von dort auf die Leiche gesehen, kopfüber, von auÃen, durch das Küchenfenster. Dann ist der Moment vorbei, als hätte jemand ein Tuch über eine Glaskugel geworfen.
Gabriel starrt auf die Leiche. Das aufgeschlitzte Geschlecht, die offene Bauchhöhle, die herausquellenden Innereien, der See aus Blut auf den abgeschlagenen Küchenfliesen â es sieht aus, als hätte jemand ein Schlachtvieh zum Ausbluten aufgebahrt.
Er will seine FüÃe bewegen, rückwärtsgehen, aber seine Sohlen sind wie festgewachsen. Der Küchenboden ist dunkel vom getrockneten Blut, und eine schwarze Wolke von Fliegen schwirrt über dem
Weitere Kostenlose Bücher