Schockgefroren
und stob davon, als wir näher traten.
»Wie eklig!« Thorstens Schwester wandte sich ab, doch wir waren neugierig und kamen noch einen Schritt näher. Auf einmal hob Thorsten den Fuß und trat mit Wucht in den Kadaver. Es gab ein unheimliches Geräusch, als er aufplatzte und überall Gedärm herausspritzte. Es stank fürchterlich. In mir stieg ein Würgereiz auf.
»Das hat dich!«, sagte Thorsten.
Ich bekam es mit der Angst zu tun. »Was meinst du damit?«, fragte ich. »Was hat mich?«
»Das da. Das hat dich!«, wiederholte er. Seine Stimme zitterte. Wir sahen uns an, und dann sagte er: »Ich muss nach Hause.«
Bevor ich antworten konnte, rief er seine Schwester, und die beiden liefen davon. Ich warf einen Blick auf den zerquetschten Kadaver. Die Fliegen ließen sich auf den Innereien nieder, der Gestank wurde immer schlimmer.
»Warum hast du das getan?«, fragte ich leise, aber da war keiner mehr, der die Frage beantworten konnte. Plötzlich hatte ich ebenfalls das Gefühl, weglaufen zu müssen. So schnell ich konnte, rannte ich nach Hause, aber der Satz »Das hat dich!« lief mit. Und jetzt ist er wieder in meinem Kopf. Ich schaue nach links, ich schaue nach rechts, aber der Schatten ist verschwunden. Ich lache über mich. Du bist einfach immer zu ängstlich, sage ich zu mir. Da sehe ich auch schon unser Haus und weiß, dass Mama und Papa auf mich warten. Mein Hunger treibt mich darauf zu. Die Flocken tanzen noch immer so schön, und für einen Moment vergesse ich meinen Mordshunger wieder. Ich vergesse auch den Schatten, vergesse den fremden Mann. Der Schnee fällt jetzt so dicht, dass er meine Fußstapfen in Windeseile verdeckt.
Ein Schneemann bleibt, denke ich. Ich sollte einen Schneemann bauen.
Ich bücke mich, um eine Kugel zu formen. Auf einmal spüre ich einen Arm, der sich fest um meinen Hals legt.
»Schrei nicht!«, droht der Mann, der mich mit sich zieht. »Oder dir passiert was.«
Tränen rinnen mir über das Gesicht, ich kann sie nicht zurückhalten. Ein heißer Sturzbach im eisigen Wintersturm.
»Ich schreie nicht«, presse ich hervor. Wir haben den Golfplatz erreicht, ich kann den See vor mir sehen. Ich muss mich befreien, fährt es mir durch den Kopf, ich muss abhauen, ich muss nach Hause! Die Hand des Mannes umklammert mein Handgelenk. Ungestüm rennt er weiter. Ich stolpere immer wieder, aber er lässt mich nicht los. Er lässt mich niemals los.
»Bitte, lieber Gott«, flüstere ich, »ich will nicht sterben!« Ich versuche meinen Arm zu drehen, vielleicht gelingt es mir so, mich aus der Umklammerung zu befreien. Ich könnte über das Feld davonrennen, im Schneegestöber sieht mich der fremde Mann vielleicht nicht. Wenn ich dorthin zurücklaufe, wo wir hergekommen sind, kann ich in fünf Minuten unser Haus erreichen. Mein Papa wird herauskommen und den fremden Mann davonjagen. Wenn es mir nur gelingt, den Griff zu lösen, diese Finger, die sich in meinen Arm bohren. Ich stolpere wieder, und der Mann reißt mich brutal auf die Beine. »Weiterlaufen! Los!«, zischt er mich an. »Wehe du schreist, dann …«
Sein Mund ist ganz nah, sein schlechter Atem bereitet mir Übelkeit. »Hör auf zu heulen«, herrscht er mich an, aber das schaffe ich nicht, das kann ich nicht. Ich kann mitlaufen, ich kann mich auf den Beinen halten, aber ich kann die Tränen nicht stoppen, die mir über die Wangen laufen und im kalten Wind gefrieren. Noch einmal drehe ich meinen Arm, will mich aus dem Klammergriff befreien. Den Schlag sehe ich nicht kommen. Er trifft mich am Kopf, genau überm Ohr. Ein stechender Schmerz durchfährt mich.
»Keine Mätzchen«, sagt der Mann. »Oder es setzt was. Du wirst jetzt schön weiterlaufen.« Der Weg führt hinab zum See. Ich kann sehen, wie der Uferbereich zugefroren ist.
»Das hat dich«, durchfährt mich die Stimme von Thorsten. »Das hat dich, und es wird dich töten!« Wieder bete ich zu Gott. »Bitte, bitte! Ich will nicht sterben!« Auf einmal ist da eine andere Stimme, und sie ist direkt in meinem Kopf. »Er wirft dich nicht in den See«, sagt sie. »Aber wenn du wegläufst, fängt er dich und erschlägt dich mit einem Stein.«
Im selben Augenblick weiß ich, dass es Gott ist, der mit mir spricht. Ich bin neun Jahre alt, ich habe keine Ahnung, wer Gott ist und wo er wohnt, und all die Geschichten aus dem Religionsunterricht waren bisher nur Geschichten. Doch auf einmal weiß ich, dass es ihn gibt, und ich weiß, dass er mit mir spricht. Er kann das tun, ohne die
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