Schockgefroren
unsere Eltern aufgeregter als wir. Ich bin der Letzte in der Reihe, als es ums Vortragen geht:
»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück«, lese ich. »Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.«
Die Leute glotzen mich an. Auch der Pfarrer sieht herüber. Zweimal hat er mich gefragt, ob ich wirklich diesen Psalm will. Ich habe zweimal mit »Ja« geantwortet. Den und nur den. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal … Seit geraumer Zeit habe ich das Gefühl, wieder dort unterwegs zu sein.
Dann werde ich fünfzehn, habe neue Kumpels, lerne das Niemandsland zwischen Frankfurt, Mainz und Wiesbaden kennen, das so unglaublich öde ist. Meine Beine rennen nicht mehr, weil ich jetzt häufig auf grauen Mauern hocke, zwischen ewig langen grauen Betonwänden, grauen Treppenfluchten, grauen Böden aus Waschbeton. Mein Leben kommt mir vor, als warte ich auf einen Bus, der niemals kommt.
Da sage ich zu meinem Kumpel Björn: »Grau und kalt ist die Welt. Das ist doch echt Scheiße.«
Der Rest ist Geschichte.
Der 9. Januar 2012 ist kein Wintertag. Draußen wehen milde Winde, und es gibt keinen Schneesturm. Es gibt keine Spuren, die verwischen, und keine nie gebauten Schneemänner. Stattdessen scheint die Sonne. Es ist kein Tag, um einen Jungen zu entführen, aber es ist ein Tag, um Erinnerungen abzuschließen. Heute beende ich meine Aufzeichnungen. 25 und ein Jahr nach meiner Entführung kann jetzt daraus ein Buch entstehen. Mein letzter Eintrag lautet: »Eine Frage ist noch offen: Was sage ich zu Adam G., wenn ich ihn treffen würde? Vielleicht nichts? Nein, ich glaube, ich könnte mit ihm sprechen. Ich hätte einige Fragen an ihn: Warum hast du nie an mich gedacht und daran, was du mir antust? Warum hast du gar nichts gelernt und dich gleich wieder an einem Jungen vergriffen? Doch sicher hätte Adam G. keine Antworten«, schreibe ich. »Wahrscheinlich würde er heulen. Wie damals, als ich ihn nach seinen Sorgen fragte.«
Dieses Treffen wird es nie geben. Ich weiß nicht, in welcher geschlossenen Anstalt Adam G. sitzt, und es interessiert mich auch nicht. Etwas anderes wird mir klar: Heute ist der 9. Januar 2012, und ich bin aufgetaut.
Ein paar Stunden später sitze ich im Zug. Draußen vor dem Fenster fliegt eine zauberhafte Landschaft vorbei: nahe der Eisenbahnlinie Weinberge, dahinter der Schwarzwald. Darüber hat jemand weiße Ballenwolken an den blauen Himmel geklebt. Jetzt schiebt sich ein Gesicht über diese Idylle: Es ist ein trauriges, müdes, verwirrtes, unschuldiges Kindergesicht. Sein Mund öffnet sich, als möchte es fragen: Ist es recht so? Ich will nichts falsch machen. Da, wo ich herkomme, kann ein Fehler das Leben kosten. Aber der Junge sagt etwas anderes. Er sagt: Hallo, Sascha. Ich weiß, du hast wegen mir Dinge getan, die du nie tun wolltest. Ich weiß, du wolltest mich deshalb vergessen. Ich bin froh, dass du dich jetzt doch noch an mich erinnert hast. Und mir nicht krummnimmst, dass ich damals so schmutzig war. Aber ich glaube, wir haben alles richtig gemacht. Weil wir überleben mussten. Erst die 86 Tage. Dann die 25 Jahre danach. Jetzt können wir in Frieden leben. Und du musst wissen, ich bin dein Freund. Ich war dein Freund und werde es immer bleiben.
Das Gesicht des Jungen sieht noch immer traurig, müde, verwirrt und unschuldig aus, doch auf einmal spielt ein kleines Lächeln um seine Lippen.
Da sage ich: »Ich bin auch dein Freund.«
Das sage ich zu den Weinbergen, das sage ich zum Schwarzwald, das sage ich zu den weißen Ballenwolken am blauen Himmel, und das sage ich zu dem Gesicht, das nur ich sehen kann: »Ich bin dein Freund!«
Dann fährt der Zug über den Rhein. Er fährt über die Grenze. Ich bin in der Schweiz angekommen, und vor mir liegt ein neues Leben.
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