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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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Reporter trägt einen beigen Anorak und bestellt Kaffee. Ob ich Gebäck möchte? Nein, möchte ich nicht. Ich bin zurückhaltend, weiß noch immer nicht, was er von mir will. Es ist schon seltsam. Da lese ich wie Millionen anderer Menschen täglich Zeitungen und Zeitschriften, aber mache mir nie Gedanken darüber, wie diese Artikel zustande kommen. Dass sie erst gemacht werden müssen, wird mir heute klar. Denn das ist der Plan des Reporters. Er will einen Artikel schreiben, in dem es um mich geht. Um mich und meine Vergangenheit.
    »Es ist schließlich genau 25 Jahre her«, sagt er. Daran habe ich keinen Gedanken verschwendet. Ein Fremder muss kommen und mir berichten, dass vor einem Vierteljahrhundert ein Verbrechen verübt wurde und ich in seinem Mittelpunkt stand.
    »Ihr Fall ist einzigartig in der deutschen Kriminalgeschichte«, fährt der Reporter fort. »Nie davor und nie danach war ein Kind in Deutschland so lange in der Gewalt …« Jetzt stockt er, dann spricht er das Wort aus: »… eines Sexualtäters.«
    Wieder wirbeln die Gedanken durch meinen Kopf. Na und, denke ich. Macht mich das zu einer Jahrmarktsattraktion? Wie der Mann mit den zwei Köpfen, der Liliputaner oder der lange Lulatsch? Nein. Es macht mich wieder zu dem kleinen Jungen, der an einem eisigen Wintertag erfährt, dass die Welt gefährlich ist.
    Ich nippe am Kaffee und versuche, meiner Gedanken Herr zu werden. »Was wollen Sie denn schreiben?«, frage ich. »Ist doch alles vergangen. Da gibt’s nichts mehr.«
    Der Mann lächelt. »Nun, es gibt Fotos und Filmaufnahmen. Vor allem aber gibt es Sie.«
    »Aufnahmen? Was denn für Aufnahmen?« Plötzlich bin ich aufgeregt.
    »RTL hat damals über Ihren Fall berichtet. Während der Suche wurde gefilmt. Die Sonderkommission, die im Einsatz war, die amerikanischen Soldaten, die halfen. Es gibt sogar Aufnahmen vom Wohnwagen. Die hat ein Polizist gemacht.«
    Der Wohnwagen. Der dreckige, stinkende Wohnwagen. Überall lag Müll und Schmutz. Ich habe ihn nicht vergessen, aber möchte mich nicht an ihn erinnern. Doch auf einmal ist es, wie wenn man einen Garten umgräbt und darin auf alte Wurzeln stößt.
    »Könnten Sie sich vorstellen, an diesem Artikel mitzuarbeiten?«, fragt der Reporter.
    Ich sehe ihn an. Er hat ein ehrliches Gesicht. Er sieht nicht aus wie einer, der mir schaden will. »Ich weiß nicht«, antworte ich. »Ich muss darüber nachdenken.«
    »Natürlich. Darf ich Sie in den nächsten Tagen anrufen?«
    Ich erwähne, dass ich vielleicht nach Österreich fahre. Wir tauschen Handynummern aus. Dann mache ich mich auf den Rückweg. Im Bus denke ich daran, dass ich vor einem Vierteljahrhundert auch in einem Bus gesessen bin. In der Linie 25, die es heute nicht mehr gibt.
    Warum, stelle ich mir die Frage, soll es ausgerechnet darüber einen Artikel geben? Warum soll ich dazu »Ja« sagen? Das geht doch keinen was an. Es gibt eine Antwort, und ich kenne sie. Die Welt ist gefährlich, und ich war nicht darauf vorbereitet. Auch meine Eltern waren nicht darauf vorbereitet und die vielen Helfer, die sich an der Suche beteiligten, ebenfalls nicht. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Halb Deutschland suchte kürzlich nach einem vermissten Jungen. Die Schlagzeilen am Zeitungskiosk brannten sich in mein Gedächtnis:
    »Die Suche nach dem vermissten Mirco aus Grefrath wird vorerst beendet. Die Polizei geht davon aus, dass ein Nachbar der Täter ist.« ( Hamburger Abendblatt , 16. 9. 2010)
    »Polizei findet Mircos Leiche. Nun ist es traurige Gewissheit: Mirco aus Grefrath ist tot.« ( Stern , 27. 1. 2011)
    »Entführer tötete Mirco noch am selben Abend. Fast fünf Monate lang hat die Sonderkommission nach ihm gesucht.« ( Westdeutsche Zeitung , 28. 1. 2011)
    Vor Mirco gab es die Entführungen von Felix Wille, von Levke Straßheim, von Natascha Kampusch, von Elizabeth Smart, von Madeleine McCann und, und, und. Kindesentführungen gibt es leider sehr viele, und nur wenige der Opfer überleben die Tortur der Gefangenschaft und die krankhaften Neigungen ihrer Entführer. Zu diesen Wenigen gehöre ich. Darf ich da länger schweigen? Habe ich nicht die Pflicht, dafür zu sorgen, dass wir alle aufmerksamer werden? Damit Erwachsene genauer hinschauen, wenn ein Mann sich anschickt, ein Kind zu verfolgen? Dass sie ihre Kinder noch besser schulen? Damit diese nicht in das fremde Auto steigen, weil der Mann sagt, komm mit, ich bringe dich zu deinen Eltern, die hatten einen Unfall. So, wie der Mörder

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