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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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Oder die Tagesreise im Omnibus hinter mich bringen. Aber ich mache das. Ich mache das jeden Tag, weil die Kur Mamas Gesundheit nicht zurückbringt. Jedes Mal, wenn ich komme, geht es ihr schlechter. Sie sagt dann, ich solle mir mal keine Sorgen machen. Als ob das so einfach wäre. Doch wenn es ihr gefällt, tue ich, als ob ich mir keine Sorgen mache. Ich setze mir die Sorglosmaske auf und schwärme ihr von der Schweiz vor. Was für ein herrliches Leben wir dort haben werden, Papa, du und ich! Der See, die Berge, die Ausflüge. Du musst nur noch auf den Damm kommen.
    Aber Mama kommt nicht auf den Damm. Ihr Blutzuckerspiegel ist im Keller und irgendwann nicht einmal mehr dort. Ich versuche, ihr Cola einzuträufeln, in kleinen Schlucken, aber sie wehrt sich. Ich probiere es mit Traubenzucker. Auch das will nicht klappen.
    »Mama«, sage ich, »das musst du nehmen. Es tut dir gut!«
    Ich probiere Cola. Ich probiere Traubenzucker. Traubenzucker. Cola. Es funktioniert nicht. Mama will nicht. Oder kann nicht.
    »Ich fahre nach Hause«, drohe ich. »Wenn du das nicht nimmst, fahre ich nach Hause.«
    Auf einmal kommt Farbe in ihr Gesicht. Ihr Mund öffnet sich, und ich denke, na bitte, jetzt den Traubenzucker rein und dann noch ein wenig Cola! Doch Mama öffnet den Mund, um mich anzuschreien: »Fahr doch! Fahr, und lass mich allein! Das ist es, was du willst! Du willst mich allein lassen!«
    Sie sagt nicht: Wie du mich schon mal allein gelassen hast. Als du mit dem Entführer gegangen bist. Aber ich höre es trotzdem.
    Nein, Mama. Ich bin nicht mitgegangen . Er hat mich mitgenommen . Macht das für dich keinen Unterschied?
    Jetzt weint Mama, und ich weine mit ihr. »Es tut mir leid, so leid«, sage ich. »Ich gehe nicht weg. Ich gehe niemals von dir weg.«

Ich würde Jenny gerne sagen:
Selbst nach dem zweiten Baden war der Schmutz noch da. Aber sobald ich nur den Mund aufmache, bricht sie in Tränen aus. Weil ich nicht alleine in meinem Zimmer bleiben will, bin ich in ihr Bett geklettert. Jetzt will ich ihr etwas sagen. Aber sie weint. Sie weint die ganze Zeit, und ich denke: Vielleicht sollte ich den Mund halten.
    Ich halte den Mund, und Jenny schläft ein. Ich bin die ganze Nacht wach. Ständig wandern meine Gedanken aus Jennys Zimmer weg zum Wohnwagen. Aus Jennys Bett zum Bett von Adam G. Jedes Mal schimpfe ich mich: nein, nein, nein! Vergiss es! Du bist ein Kerl! Ein Kerl kann vergessen! Dann lausche ich Jennys Atemzügen, sie gehen nicht regelmäßig. Es sind die Atemzüge wie von einem, der über ein schneebedecktes Feld gezerrt wird …
    Hör auf damit! Schlaf jetzt! Schlaf sofort ein!
    Aber es klappt nicht. Nicht in dieser Nacht und nicht in vielen Nächten, die folgen werden. In mir ist eine Angst, dass ich einschlafe, aufwache und im Wohnwagen bin. In mir ist eine Angst, dass ich einschlafe, aufwache und in der Kiste stecke. In mir ist eine Angst, dass ich einschlafe, aufwache und in den Spalt gestopft werde. Deshalb darf ich nicht einschlafen.
    Vielleicht kann ich mich aus diesem Grund nicht daran erinnern, was in den nächsten Tagen geschah. Nur ein paar Bilder wie Blitze in der Nacht: Verwandtschaft. Nachbarn. Freunde. Zeitungsleute. Sascha auf dem Balkon. Sascha winkt. Sascha wird geküsst. Und geknuddelt. Und liebkost. Und wieder geküsst, von oben bis unten.
    Danach wird Sascha ausgefragt. Ein paar Tage sind vergangen, als Mama sagt: »Willst du nicht mal was erzählen?«
    Ich bin neun Jahre alt. Im Wohnwagen wurde ich erwachsen. Jetzt bin ich ein Kerl. Ich bin ein Kerl und habe nachgedacht: Ich war drei Monate weg, bin wieder da, und die Reaktion der Menschen ist extrem .
    Ich weiß nicht, wo ich dieses Wort aufgeschnappt habe und woher ich seine Bedeutung kenne. Es ist ein neues Wort, aber es passt zu allem, was um mich herum passiert: extrem.
    Es gefällt mir nicht, dass alles um mich herum extrem ist. Ich will das Wort extrem nicht. Ich will das Gegenteil davon.
    Deshalb sage ich zu Mama: »Ich habe beschlossen, nichts zu sagen.«
    Mama sieht mich mit einem Gesichtsausdruck an, der ist auch extrem. Ich hasse »extrem«.
    Mama sagt: »Du entscheidest das?«
    »Ja«, antworte ich. »Es ist besser für euch.«
    Drei Monate war er weg, und jetzt macht er sich Gedanken darum, was besser für uns ist. Das ist ein Kerl. Das ist doch ein Kerl, oder?
    Mama sagt: »Es ist besser für uns? «
    »Ja«, antworte ich.
    Da fängt sie an zu weinen. Aus dem Stand, aus dem Nichts. Ganz furchtbar fängt sie an zu weinen.

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