Schockgefroren
jetzt bin ich ein Kerl. Ein Kerl, der seine Mama und seinen Papa zum Lachen bringen kann. Sie sollen von dem Schmutz nichts wissen. Den werde ich einfach in der Badewanne abwaschen. Ich bin mir ganz sicher: Mit dem Badewasser wird der Schmutz im Abfluss verschwinden.
Ich steige am Wiesbadener Hauptbahnhof aus, aber es fühlt sich nicht an, als käme ich nach Hause. Vielleicht liegt es an meiner Nervosität. Vielleicht liegt es an etwas anderem. Normalerweise fahre ich Bus, jetzt nehme ich ein Taxi. Ich habe das Gefühl, keine Zeit verlieren zu dürfen. Zwanzig Minuten später öffne ich bei mir die Haustür. Seltsam: Als ich sie verschloss, glaubte ich, erst in ein paar Wochen oder Monaten wiederzukommen. Ist es bei mir nicht immer dasselbe? Ich mache Pläne. Ich ändere Pläne. So ist mein Leben. Manchmal fühle ich mich wie die Kugel auf dem Billardtisch, deren seltsamer Lauf über viele Banden nur einer kennt: der Meister mit dem Queue in der Hand. Die Kugel selbst weiß nichts von ihrem Schicksal. In welcher der Taschen des Tisches wird sie enden? Zum Glück weiß sie es nicht. Sie würde womöglich versuchen, den Lauf der Dinge zu ändern. Ich versuche mal wieder, den Lauf der Dinge zu ändern. Kaum bin ich zuhause, bin ich schon wieder weg. Ich fahre ins Krankenhaus zu Mama. Dort sehe ich auf einen Blick, wie recht die Ärzte hatten. Mama sagt, das ist nichts, das wird schon, in ein paar Tagen bin ich wieder auf dem Damm. Ich setze mich zu ihr ans Bett.
»Und jetzt erzähl mal«, sagt Mama. »Wie ist es in der Schweiz?«
Viel sagen kann ich nicht. Aber die Lachmaske sitzt fest auf meinem Gesicht, und so schwärme ich meiner Mama von Zürich vor: Was für eine tolle Stadt! Der Limmat mit seinen Strandbädern! Der See mit seinen Schiffen! Im Hintergrund die Berner Alpen, schneebedeckte Spitzen, die den Himmel küssen. Die Menschen sind freundlich, meine Arbeit eine Wucht, die Bezahlung super. Was hältst du davon, wenn du mich mit Papa besuchen kommst? Sobald du wieder gesund bist? Dann schaut ihr euch alles an, und wer weiß, vielleicht gefällt es euch so gut, dass ihr bleiben wollt. Kommt doch in die Schweiz, und wir fahren am Wochenende in den Jura! In die Alpen! An den Vierwaldstättersee!
Ich höre mich an wie ein Verkäufer. Und ich bin ein guter Verkäufer, das weiß ich. Ich will meiner Mama etwas verkaufen: einen unbeschwerten, sorgenfreien Lebensabend in meiner Nähe. Wie ich sie so hilflos vor mir im Bett liegen sehe, ist es mir dann auch egal, wenn sie jeden Tag bei mir anruft. Von mir aus kann sie das tun, so oft sie will.
Weil ich dich liebe, Mama.
Weil ich dich unendlich liebe.
Weil nichts und niemand diese Liebe zerstören kann: kein Adam G. und keine Entführung und keine Schändung und auch nicht, dass wir nie über den Schmutz reden konnten, der von keinem Badewasser der Welt abzuwaschen war.
Und glaube mir, Mama: Ich habe es versucht. Vom ersten Tag an habe ich es versucht.
Meine Mama lässt Badewasser ein.
In meinen Ohren gellt noch der zweite Schrei des Abends. Der kam von Jenny. Als wir die Treppe hochkommen, schreit sie so laut und lang wie Mama. Neben ihr stehen mein Bruder und seine Freundin. Doris ist da. Alle sind da. Sie drücken und herzen und knutschen mich, dass ich kaum Luft bekomme. Sie haben tausend Sachen zu sagen, aber es ist immer wieder das Gleiche: Ich bin so froh, dass du zurück bist! Wie froh ich bin, dass du zurück bist. Ja, ich bin zurück, und das macht alle froh.
Ich bin auch froh! Aber ich würde trotzdem gerne vom Arm herunter. Es sind Arme, die fest zudrücken können. Ich habe Angst vor Armen, die fest zudrücken können. Der Mensch, dem die Arme gehören, ist nicht Adam G., aber ich habe trotzdem Angst. Jemand sagt: »Heute ist dein Tag, Sascha, dein Tag! Alles, was du willst, wird gemacht. Was willst du?«
Was will ich? Ich wollte nach Hause, jetzt bin ich hier, was bleibt noch übrig? Ich weiß, was ich nicht will: Ich will nicht an Adam G. denken, der mit Urgewalt durch meinen Kopf rauscht und ihn komplett ausfüllt: Ist das deine Dankbarkeit?, schreit er in meinem Kopf herum. Habe ich dir nicht zu essen und zu trinken gegeben? Einen Fernseher habe ich gebracht und dir gezeigt, wie man Dinosaurier malt? War ich nicht ein guter Freund ?
Um mich herum herrscht ausgelassener Trubel. Aber ich spüre Blicke. Diese Blicke fragen, was ist mit ihm passiert? Was hat der böse Mann mit ihm gemacht?
»Gibt es etwas, was du möchtest?«
Ja, es gibt was.
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