Schockgefroren
Etwas, das ich wirklich will. Drei Monate war ich weg, im Schmutz, im Müll, bei den Ratten. Das weiße Tuch im Krankenhaus war schnell nicht mehr weiß. Ich bin unendlich schmutzig. Innen und außen bin ich schmutzig. Mein Plan ist, das ein für alle Mal zu ändern.
Der Schmutz muss weg. Und zwar sofort.
»Baden würde ich gerne!«
So was lässt sich Mama nicht zweimal sagen. Schaum kommt zum Badewasser dazu. Dann der Sascha. Das Wasser ist warm. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie warmes Wasser sich anfühlt. Gut fühlt es sich an. Tolle Sache, so ein Wasserhahn. Man dreht ihn auf, und warmes Wasser kommt raus. Jeder sollte so einen Wasserhahn haben. Auch Adam G. sollte so einen haben.
Aber der braucht ihn nicht mehr, Sascha! Adam G. ist weg. Mit Handschellen abgeführt. Verschwunden wie ein Geist. Vergiss ihn. Vergiss Adi. Wer war nochmal Adi?
Die Badezimmertür geht auf, und Jennys Kopf lugt rein. Sie hat eine Tränenmaske auf, die kenne ich nur zu gut. Die Tränenmaske ist wie die Lachmaske, nur ehrlicher. Man setzt sie sich nicht selbst auf, sie kommt von allein. Jenny schnieft und schluchzt und weint. Worte fallen aus der Tränenmaske: Es tut ihr leid, das hat sie nicht gewollt, wenn sie nur gewusst hätte, ach was, geahnt, hätte sie mich niemals in den Bus gesetzt. Es ist alles ihre Schuld!
Jenny!
Jenny!!
Wenn jemand keine Schuld hat, dann du. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort; das ist alles. Bitte weine nicht, Jenny. Hör auf! Aber Jenny kann nicht aufhören. Und ich kann nicht sagen, was ich ihr gerne sagen möchte. Ich sitze im warmen Wasser und schweige und überlege, ob Jennys Tränen die Wanne zum Überlaufen bringen.
Das ist, was ich mir überlege.
Dann bin ich wieder alleine und ziehe den Stöpsel. Badewasser, Jennytränen und der ganze Schmutz sollen jetzt ablaufen. Vor allem der Schmutz. Das ist der Plan. Einmal baden, dann bin ich ihn los. Dann kann ich mich mit den anderen freuen.
Ich sehe zu, wie das Wasser in kleinen Wirbeln abläuft. Es gurgelt. Da, wo der Wasserrand war, ist jetzt ein Schmutzrand. Ein unglaublich schwarzer Schmutzrand. Das war so nicht ausgemacht. Der Schmutz soll nicht an der Wanne kleben. Der Schmutz soll mit dem Wasser ablaufen. Der soll verschwinden. Ich will ihn nicht sehen, den Schmutz. Wenn der Schmutz an der Wanne klebt, wer kann dann sagen, dass er nicht auch noch an mir klebt?
Die Tür geht auf, und Mama kommt rein. Sie lacht. Es ist ein ungläubiges Lachen, es ist ein erschrockenes Lachen, es ist ein ängstliches Lachen. »Nun seht euch mal das an«, sagt sie. »Ich glaube, du hast dich schon lange nicht mehr gewaschen.«
Nein, Mama. Schon lange nicht mehr. Schon so lange nicht mehr, dass der Schmutz in mich hineinwuchs. Er ist da drin und füllt mich gänzlich aus. Ich bin nicht schmutzig, Mama. Ich bin der Schmutz.
Aber ich darf nicht aufgeben. Mein Plan war, den Schmutz mit dem Badewasser abzuwaschen. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, dann vielleicht beim zweiten Mal?
»Mama«, frage ich, »darf ich gleich nochmal baden?«
»Ihre Mutter braucht eine Kur«, sagt der Arzt. Kur klingt gut, Kur klingt nach Genesung. Der einzige Nachteil ist: Das Krankenhaus ist in der Nähe, die Kurklinik fünfzig Kilometer entfernt. Manchmal fahre ich mit Papa hin, manchmal mit dem Bus. Das ist dann fast schon eine Tagesreise. Ich könnte mich in den Hintern beißen vor Ärger, dass ich den Führerschein verdaddelt habe. Ich könnte mich in den Hintern beißen, dass ich Angst vor dem Idiotentest habe. So nennen ihn meine Kumpels. Sie sagen, die erste Aufgabe ist, zwei Kugeln aufeinanderzustapeln. Wer das schafft, kriegt die Pappe wieder. Wer nicht, glotzt in die Röhre.
Sie lachen.
Ich lache mit.
Dabei ist mir zum Heulen. Ich sollte die Pappe schon ewig wieder in der Tasche haben. Es ist verdammt lange her, seit ich den Führerschein im Verkehrskreisel von Bingen verloren habe. Doch ich habe Angst vor der Prüfung. Ich habe eine Scheißangst vor dem Idiotentest. Nicht, weil ich vielleicht Kugeln stapeln müsste. Wenn es sein muss, staple ich die meterhoch. Ich habe Angst davor, weil der Idiotentest kein Idiotentest ist. Sondern eine strenge Prüfung, ob man rein und clean genug ist, um wieder am Straßenverkehr teilzunehmen.
Ich bin nicht rein. Ich bin nicht clean. Ich bin schmutzig. Und weil ich schmutzig bin, greife ich immer wieder zu dem, was mich die Pappe kostete. Jetzt, wo Mama krank ist, sogar noch häufiger.
So muss ich mit Papa fahren.
Weitere Kostenlose Bücher