Schockgefroren
als dass sie sich Sorgen macht. Hatte sie von denen nicht genug in ihrem Leben? Also versuche ich es mit einer Strategie: Taucht das Wort »Mama« im Display meines Telefons auf und ich fühle mich nicht so gut, gehe ich nicht mehr hin. Danach fühle ich mich keineswegs besser. Im Gegenteil, ich fühle mich mies. Was habe ich getan? Ich habe Mama verleugnet. Dabei wünscht sie sich doch nur, dass ihr Sascha fröhlich ist, ich mir nie mehr Sorgen machen muss. Hatte ich von denen nicht genug im Leben? Also versucht auch sie es mit einer Strategie: Sie versucht es einfach noch mal. Das Telefon klingelt und klingelt und klingelt, und »Mama« steht im Display. Ich gehe nicht ran.
Doch jetzt ist Mama krank. Die Ärzte sagen, es geht ihr nicht gut, sie muss in die Klinik. Bisher rief sie jeden Tag auf dem Handy an, und ich ging auch immer ran. Schließlich kann ich nicht mehr jeden Tag bei ihr vorbeischauen. Ich kann nicht einmal mehr meinem Papa bei den Einkäufen helfen.
Das Handy klingelt, ich gehe ran, und Mama sagt: »Ich muss für ein paar Tage in die Klinik. Mach dir keine Sorgen, das wird schon.«
Sie hat noch nicht einmal ausgesprochen, da mache ich mir schon Sorgen. Noch mehr Sorgen, die sich zu all den anderen Sorgen addieren.
»Ich komme zurück«, sage ich. »Bin schon unterwegs.«
»Das musst du nicht. Wirklich, Sascha, denk an deinen neuen Job.«
Der neue Job ist mir egal. Mama ist krank, und Mama braucht mich. Ich spreche mit Michaela, und sie sagt: »Kein Problem.«
Kurze Zeit später sitze ich im Zug. Es geht die Strecke zurück, die ich vor ein paar Tagen gekommen bin: Zürich – Basel – Frankfurt. In ein paar Stunden werde ich am Wiesbadener Hauptbahnhof aussteigen mit dem Gefühl, nach Hause zu kommen.
Mein Leben nach 86 Tagen Gefangenschaft
beginnt mit einem markerschütternden Schrei. Es ist Mama. Sie steht in der Tür der Polizeistation und schreit.
Warum schreit sie so, denke ich, warum nimmt sie mich nicht in den Arm? Noch sind sie nicht weg, die bösen Gedanken: Deine Eltern suchen dich nicht. Deine Eltern haben dich längst vergessen. Sie sitzen zuhause auf dem Sofa und erzählen sich Witze.
Dann kommt Mama auf mich zugerannt, und nichts kann sie mehr halten. Sie drückt mich und küsst mich und herzt mich und liebkost mich, sie umschlingt mich und bindet mich für immer an sich. Das tut sie in einem einzigen Augenblick. Auf einmal ist bei mir alle Aufregung, alle Vorfreude weg.
Ich sage: »Beruhige dich, Mama.«
Aber Mama kann sich nicht beruhigen. Sie weint, sie schreit, sie küsst mich nochmals und nochmals und nochmals. Alles geht so schnell, ich kann nicht einmal die Lachmaske aufsetzen.
Zum Glück kommt ein Polizist und sagt: »Der Junge muss ins Krankenhaus.«
Kurze Zeit später sitze ich bei meinen Eltern im Auto, und wir fahren in eine Klinik. Meine Mama ist völlig aus dem Häuschen. Später wird Papa im Film sagen, du hast gebetet und gezittert wie verrückt. Ich musste ruhig bleiben und Auto fahren.
Im Krankenhaus muss ich mich ausziehen und auf einen Tisch setzen. Darauf liegt ein weißes Tuch. Sofort ist das Tuch nicht mehr weiß, sondern starrt vor Schmutz.
Ich sage: »Es tut mir leid.«
Vor mir steht ein Arzt. Er antwortet: »Du musst dich für nichts entschuldigen.«
Während der ganzen Zeit redet Mama wie ein Wasserfall. Der Wasserfall spült alle Erinnerungen an die Untersuchung weg. Ich weiß nicht mehr, was der Arzt noch alles gesagt hat. Ich weiß nicht, ob er gesehen hat, was mit mir passiert ist. Ich weiß nur: Ich fühle mich schmutzig. So schmutzig schmutzig schmutzig schmutzig schmutzig.
Diesen Schmutz spült der Mama-Wasserfall nicht weg.
Dann sitzen wir wieder im Auto. Mein Papa vorne, meine Mama hinten bei mir. Sie streichelt mich. Sie küsst mich. Sie sagt: »Du musst nicht darüber reden. Erst wenn du möchtest.«
Ich will schon über etwas reden. Etwas, das mich die ganze Zeit beschäftigt: »Wie lange war ich weg?«
Mama beginnt erneut zu weinen. Oder hat sie gar nicht damit aufgehört? »Drei Monate. Über drei Monate!«
»So lange? Dann kriege ich noch Taschengeld, oder? Das kriege ich doch?«
Vorne am Steuer lacht Papa, und es freut mich, ihn lachen zu hören. Neben mir lacht Mama unter Tränen. Das freut mich noch mehr.
»Drei Monate war er weg, und jetzt macht er sich Gedanken ums Taschengeld«, schluchzt sie. »Das ist ein Kerl. Das ist doch ein Kerl, oder?«
Ja, das will ich sein. Ich war ein Kind und wurde erwachsen, und
Weitere Kostenlose Bücher