Schockgefroren
Aus ihrem Weinen wird Heulen, aus dem Heulen ein Schluchzen, das alles ist sehr, sehr extrem.
Und von da an weiß ich, wie richtig meine Entscheidung ist. Wie extrem wird es erst werden, wenn ich davon erzähle. Nein, davon darf ich niemals erzählen. Ich muss es für mich behalten, für immer und ewig.
Da ich nicht gehen kann, geht Mama. Zuerst versagen ihre Nieren, dann die restlichen Organe. Ich bin bei ihr, und ich halte ihre Hand. Ein Arzt hat Papa informiert, aber er schafft es nicht rechtzeitig. Als er kommt, ist Mama schon tot.
Es ist kurz vor Weihnachten, und Mama ist tot.
Die nächsten Tage erlebe ich, als hätte jemand einen Deckel über mich gestülpt. Alles dringt nur noch gedämpft zu mir durch. Das Licht. Die Geräusche. Meine Gedanken. Die Welt ist dumpf und stickig geworden. Ich verbringe die Zeit vor dem Fernseher. Irgendwas läuft immer, mir ist egal, was. Die Spielkonsole ist angestöpselt, Schattenfiguren huschen über den Schirm. Manchmal klingelt das Telefon. Ich gehe nicht ran. Es klingelt an der Tür. Ich mache nicht auf. Die Zigaretten gehen aus. Das ist schmerzlich, sie werden gebraucht. Aber raus zum nächsten Automaten, das geht nicht. Rausgehen ist eine unmögliche Sache geworden. Ich habe nichts zum Essen im Haus, was soll’s, ich habe ohnehin keinen Appetit. Ich habe auch nichts zum Trinken im Haus, aber wozu gibt es einen Wasserhahn?
Tolle Sache, so ein Wasserhahn. Man dreht ihn auf, und Wasser kommt raus.
Wieder das Telefon. Es nervt. Ich sollte den Stecker ziehen. Doch wozu die Mühe? Ich frage mich, ob wir in unserer Familie mehr miteinander hätten reden sollen. Ich frage mich, warum man das immer erst dann weiß, wenn es zu spät ist.
Ich schalte den Fernseher ab. Ich mache mir nicht die Mühe, ins Bett zu gehen, ich bleibe auf dem Sofa liegen. Es klingelt an der Tür. Ich schließe die Augen. Ich bin wieder im Krankenhaus und halte Mamas Hand. Ganz am Ende haben wir nicht mehr geweint. Ganz am Ende haben wir nicht mehr geredet. Ganz am Ende haben wir nur noch Liebe gespürt.
Wenn man das Ende erreicht, genügt das.
In der zweiten Nacht
liege ich bei Mama und Papa im Bett. Sobald sie einschlafen, sage ich: »Ihr dürft nicht schlafen. Ihr dürft nicht schlafen.« Irgendwann wird es hell, und sie haben nicht geschlafen. Ich habe auch nicht geschlafen, die zweite Nacht in Folge. Wir stehen auf, ich bekomme Frühstück. Mmmh, Cornflakes. Die hatte ich schon lange nicht mehr! Lecker! Mama und Papa reden mit mir, doch in meinem Kopf redet Adam G. Er bettelt jetzt. Er sagt, er hätte mir gerne Cornflakes gegeben, aber woher nehmen, wenn nicht stehlen.
»Gestohlen hast du auch so«, sage ich.
»Wie war das, Schatz?«, fragt Mama.
Ich schenke ihr ein Lachen und denke, Kerl, reiß dich zusammen. Du verplapperst dich.
Am Nachmittag kommen Polizisten. Sie stellen Fragen, ermahnen mich eindringlich zur Wahrheit. Wie kann ich alles für mich behalten, für immer und ewig, wenn ich eindringlich zur Wahrheit ermahnt werde?, überlege ich. Werde ich ins Gefängnis gesteckt, wenn ich eine vorsätzlich oder fahrlässig falsche und unvollständige eidliche Aussage mache? Oder muss ich zurück zu Adam G.?
Also erzähle ich: »Von dem Mann habe ich erst etwas gemerkt, als er mich unten an dem Gebüsch an unserer Hausecke mit dem Arm um den Hals gefasst hat. Vor Schreck habe ich nicht gerufen. Das mit dem Arschficken ist ungefähr jede Woche einmal vorgekommen.«
Ja, ich habe es gesagt, schließlich wurde ich eindringlich zur Wahrheit ermahnt. Gleichzeitig bin ich auch ein Kerl, und ich weiß, niemand war dabei. Da kann doch »ungefähr jede Woche einmal« genügen, oder? »Ungefähr jede Woche einmal« klingt viel besser als »wann immer er wollte«.
Es tut mir leid, Mama und Papa. Spätestens jetzt wisst ihr mehr, als ich wollte. Spätestens jetzt wird es extrem. Aber ich musste es sagen. Nicht dass sie mich ins Gefängnis schicken. Oder zurück zu Adam G.
Selbst gelesen, genehmigt und unterschrieben. Sascha Buzmann.
Zum Glück habe ich Geschwister, die zupacken können. Die organisieren können. Die wissen, was für ein Begräbnis zu tun ist. Meine Geschwister haben alles in die Wege geleitet, und ich bin ihnen dankbar dafür. Am Tag von Mamas Beerdigung weht ein frischer Wind über die Höhen des Taunus. Er tut mir gut. Wir stehen am Grab, und der Pfarrer spricht davon, dass Mama jetzt in einer besseren Welt ist. Ja, denke ich, weil unsere Welt gefährlich ist. Ich kann davon
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