Schöne Bescherung
Plotek ein bisschen schmunzeln. Und auch die Blinde schmunzelte jetzt ein wenig. Als würde sie denken: Da gibt es noch ganz andere Beispiele – nicht nur bei Blinden. Wenn die Lippen zu den Nasenlöchern rutschen, der Kajalstift die Augen bis zu den Tränensäcken hinunter malt und die Wangen aussehen wie blaue Flecken – grauenhaft.
Während Plotek vor sich hin und alles in sich hineindachte, schnellte der Zeigefinger der Blinden hoch und winkte Plotek näher zu sich. Wieder ein zitierender Zeigefinger, hätte man denken können, und: Das kann Plotek jetzt überhaupt nicht verknusen – aber vergiss es! Plotek war ganz und gar nicht verstimmt. Er dachte jetzt an was ganz anderes: Auch wieder schön geschminkt, dachte er, die langen, spitz gefeilten Nägel, in einem zum Lippenstift passenden Rot lackiert. Da sieht man mal wieder: Das Gleiche muss nicht immer dasselbe sein. Oder, ein Zeigefinger ist nicht gleich ein Zeigefinger. Es hängt davon ab, was dranhängt. Auf der einen Seite die Hasenscharte, auf der anderen die Blinde.
»Können Sie mir einen Gefallen tun?«, flüsterte jetzt die Blinde, nachdem Plotek einen Schritt auf sie zu getan und gleichzeitig dem Gebräunten den Rücken zugekehrt hatte, um ihm somit die Sicht zu versperren.
»Äh, ja, also, kommt darauf an . . .«
»Halten Sie mir den schmierigen Macho da drüben vom Leib.«
Ob das jetzt auch in den Aufgabenbereich eines Reisebegleiters gehörte – keine Ahnung. Plotek nickte halbherzig.
»Ich glaube, der hat es nicht nur auf die einsamen Herzen im Bus abgesehen, sondern auch auf allerhand andere Kostbarkeiten.«
Sie zeigte auf ihr Handgelenk. Unter ihrem Pullover schob sich ein beeindruckender Glanz hervor und schmuggelte sich in Ploteks Blick. Irgendwie hätte er jetzt den schmierigen Macho durchaus verstanden, wenn er sich an diesem Prachtexemplar vergreifen wollte. Das war eine »Jaeger LeCoultre Reverso«, die sich elegant um das Handgelenk der Blinden schlängelte. Eine schöne Uhr, eine teure Uhr.
»Ich werd verrückt«, flüsterte Plotek beeindruckt.
Jetzt muss man wissen, dass Plotek nicht nur ein Faible für Uhren hatte, sondern auch ein leidlicher Uhrenkenner war – aber das ist eine andere Geschichte. Nur so viel: Vor ein paar Monaten war Plotek über einen dummen Zufall an eine »Rodina« geraten, eine alte russische Uhr, die er seitdem zu seinem Besitz zählte. Er zog jetzt den Ärmel hoch und präsentierte die »Rodina« stolz der Blinden – bis er betreten den Ärmel wieder sinken ließ. Aber nicht nur die Uhr der Blinden versetzte Plotek in Staunen, auch ihr Geruch war betörend. Die Blinde roch . . . nach Agnes! Hätte er die Augen geschlossen und nur seiner Nase vertraut, er hätte geschworen, dass da vor ihm nur Agnes sitzen konnte. Dasselbe Parfüm, dieselbe olfaktorische Provokation. Und jetzt: die vorwurfsvolle Erinnerung an den zurückliegenden Streit. Als ob Agnes auch noch aus der Ferne auf Plotek einwirken wollte – wenn auch nur geruchlich. Und wie zur Bestätigung meldete sich Ploteks schlechtes Gewissen. Daran anknüpfend verschränkte die Blinde ihre Arme vor der Brust, legte sich wieder in den Sessel zurück und sagte, ein wenig überheblich: »Danke, das war’s!«
Sie wandte sich von Plotek ab und blickte wieder selbstvergessen aus dem Fenster. Mit glühend roten Backen – von den verbalen Ohrfeigen – trottete Plotek im Bus nach vorne und ließ dabei den Blick von Sitz zu Sitz hüpfen, um sich die restlichen Passagiere einzuprägen. Als da wären: ein Ehepaar, Helga und Heinz, beide in identischer Garderobe – Strickweste, kariertes Hemd, Kniebundhose und Haferlschuhe – , die so aussahen, als ob sie nicht in ein Kurbad unterwegs wären, sondern auf den Großglockner. Die Frau zupfte und nestelte ständig an ihrem Mann herum. An der Strickweste, am Hemdkragen, an der Knopfleiste – bis der Mann unwirsch »Helga, Mensch, lass doch mal!« zischte.
Die Frau ließ es tatsächlich, dafür war sie eingeschnappt und wandte sich von ihrem Mann ab. Sie guckte jetzt wie die Blinde demonstrativ aus dem Fenster. Höchstens fünf Kilometer, dann kam der Ehemann Heinz mit schlechtem Gewissen angekrochen, legte ihr die Hand aufs Knie und winselte um Verzeihung. Helga schmollte zwar noch ein bisschen, doch schon ein paar Kilometer später nestelte sie ihm wieder versöhnt an Hemdkragen und Strickweste herum.
Dem Ehepaar gegenüber saß ein Mann, ebenfalls über sechzig, mit Halbglatze und grauem, buschigem
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