Schöne Khadija
sie tun könnte, wenn sie Lust dazu hatte. Ich hätte gerne etwas Tröstliches gesagt, aber es gab nur eines, was ich ganz sicher wusste.
»Bevor die Show vorbei ist, wird Sandy an gar nichts anderes denken. Sie konzentriert sich total darauf. Wenn es gut läuft – ja, dann tut sie vielleicht etwas für dich. Sie kann gelegentlich sehr großzügig sein.«
»Aber dann ist es vielleicht zu spät«, erwiderte Khadija. »Ich muss entscheiden, was ich tun soll – und wenn ich dann die falsche Entscheidung treffe?«
Was sollte ich darauf antworten? Wir redeten nicht weiter, sondern standen nur nebeneinander und sahen zu, wie der Himmel blasser wurde. Als es hell genug war, dass wir uns gegenseitig erkennen konnten, richtete sich Khadija auf und hob den Kopf.
»Zeit, mein Gesicht zu verstecken«, sagte sie und ging zurück ins Haus.
Eine halbe Stunde später war Sandy wach und weckte uns alle.
»Nur noch fünf Stunden, bis wir online sind«, rief sie, von Haus zu Haus gehend. »Kommt so schnell wie möglich heraus. Wir müssen alles überprüfen … und einen Probedurchgang machen!«
Ein kompletter Probedurchgang ist auf einer normalen Modenschau ein ziemlicher Luxus, aber das hier war alles andere als normal. Innerhalb einer Stunde waren alle auf ihren Plätzen und die mit Sonnencreme verschmierten Models marschierten auf und ab und versuchten, cool auszusehen.
Der Catwalk begann am Dorfrand und ging bis in dessen Mitte,wo sich die Models auf einer kleinen Bühne drehten. Dad hatte die Kamera genau dahinter aufgebaut, sodass man nichts sehen konnte außer dem Laufsteg selbst und dem weiten Land im Hintergrund. Wenn die Models auf die Kamera zuliefen, hoben sich ihre Kleider vor dem nackten, rötlichen Boden und dem weiten Himmel ab. Das war es, was die Menschen in London zu sehen bekamen. Ein reines, unverstelltes Bild von Licht und Raum.
Ansonsten herrschte das pure Chaos. Alles, was normalerweise Backstage verborgen war, stand hier offen herum. Kosmetik, Schuhe, Bürsten und Kämme, Dosen voller Clips und Nadeln und Sicherheitsnadeln und alle möglichen Fäden für schnelle Notreparaturen.
Die Kleider hingen auf Ständern im Freien, jedes zusammen mit den dazugehörigen Accessoires. An jedem Kleiderbügel hing auch ein Foto, das zeigte, wie das Kleid am Ende aussehen sollte, und Amina ging sie alle durch und zeigte den Ankleidehilfen, auf was sie achten mussten. Und sie betonte, wie schnell sie arbeiten mussten.
Plötzlich drehte sie sich stirnrunzelnd um. »Welche Häuser benutzen Sie als Umkleideräume?«
Sandy überprüfte gerade die Kleiderständer und verstand Aminas Frage nicht gleich. Doch dann sah sie abwesend auf. »Was meinen Sie mit Umkleideräumen?«
Bei einem Catwalk geht es um glatte Abläufe und blitzschnelle Wechsel. Sobald die Models den Catwalk verlassen, kommen die Ankleidehilfen, ziehen ihnen ein Kleid aus und das nächste an. Es wirbeln stets Dutzende von Leuten herum, aber das kümmert keinen Menschen. Doch diesmal war dieser Backstagebereich im Freien – und Sandy war davon ausgegangen, dass sich alle außer Khadija dort umziehen würden.
Als sie sich umsah und Aminas entsetztes Gesicht bemerkte, reagierte sie blitzschnell. »Wandschirme!«, schrie sie hektisch. »Suliman, die Männer sollen einen Bereich abschirmen. So dicht am Laufsteg wie möglich, aber außer Sichtweite der Kameras.«
Ich sah im ganzen Dorf nichts, was man als Wandschirme hättebenutzen können, aber da täuschte ich mich. Mitten in der ganzen Hektik begannen die Zimmerleute die Häuser am Dorfrand auseinanderzunehmen. Sie bestanden aus Zweigen und Matten und dieses Material brachten sie auf den Dorfplatz und stellten es zu einem dachlosen Umkleideraum zusammen.
Und als ob das nicht genug war, um alle verrückt zu machen, wuselte auch noch Tony Morales überall herum und fotografierte wie wild. Ich dachte immer, die Leute müssten über ihn stolpern, aber er war erstaunlich agil.
Den größten Teil des Vormittags verbrachte ich damit, ihn Khadija vom Leibe zu halten.
Es war kein leichter Morgen für sie. Sie musste nur zwei Kleider tragen – eines, mit dem die Show eröffnet wurde, und eines ganz am Schluss – und daher hatte sie viel zu viel Zeit, herumzustehen und sich Sorgen zu machen. Doch das hatte keinen Sinn, also nahm ich sie mit, um Dad zu suchen.
Er sprach über das Satellitentelefon mit Marco in London. Die ganze Ausrüstung für den Weblink war geliehen und hierher gebracht
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