Schöne Lügen: Roman (German Edition)
einen Bruder! Es gab einen Menschen, mit dem ich meine Herkunft teilte. Ich begann, Gesichter in der Menge zu studieren. Jeden Mann Ihres Alters habe ich angestarrt und mich gefragt, ob Sie es vielleicht sein könnten. Ich will Sie nicht mit all den ermüdenden Einzelheiten aufhalten, aber zuletzt habe ich Ihre Adoptiveltern ermitteln können. Das war relativ einfach, da sie in Los Angeles geblieben sind. Es tut mir leid, daß sie verstorben sind. Sie kamen vor einigen Jahren um, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich habe auch meinen Vater verloren, Mr. O’Shea, als ich im College war. Ich hoffe, Sie hatten genauso viel Glück wie ich mit der Familie, die Sie adoptiert hat. Die O’Sheas haben mich geliebt, als wäre ich ihr eigen Fleisch und Blut. Und ich liebe sie auch.«
»Ja, meine Eltern, oder richtiger, die Lymans, waren großartig.«
»Oh, das freut mich so.« Erin war begeistert. »Eine der Agenturen, von denen ich Ihnen erzählt habe, hat mir geholfen, Sie hier zu finden. Ich habe einiges über Sie gehört, aber bei weitem nicht all das, was ich wissen möchte. Ich würde gern mehr über Sie erfahren, über Ihr Leben.«
Die Brille klebte jetzt gefährlich am Rande seiner Nasenspitze, und er starrte sie über das Brillengestell hinweg an. Dann nahm er sie ab und legte sie auf den Tisch neben sich. »Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, meinte er. »Wir sehen einander nicht unbedingt ähnlich. Würden Sie glauben, daß wir Bruder und Schwester sind?«
Sie lachte, erfreut, daß er endlich auf sie einging. Die Linien um seinen Mund hatten sich etwas geglättet. Sie mußte geduldig sein mit ihm. Immerhin hatte sie ihm einiges zugemutet. »Das gleiche habe ich auch gedacht, als Sie an die Tür kamen. Wir sehen einander überhaupt nicht ähnlich.«
Seine Augen betrachteten jede Einzelheit ihres Gesichts, und sie blieb ganz still sitzen bei dieser Musterung, ließ ihm das gleiche Recht wie er ihr zuvor.
Er sah auf die wilden schwarzen Locken, die sie aus dem Gesicht gekämmt hatte. Dunkle Brauen wölbten sich wie Schwingen über ihre Augen – Natalie-Wood-Augen, hatte einer ihrer Freunde in der High School sie genannt. Sie waren rund, groß und so dunkel wie Ebenholz. In ihrer New Yorker Zeit hatte sie ein Kosmetikstudio konsultiert, das ihr beigebracht hatte, sie richtig zu betonen, mit einem Hauch Lidschatten und Lidstrich. Das Resultat war atemberaubend für jemanden, der sie zum ersten Mal sah. Ihre Augen drückten viel von dem aus, was Erin fühlte und dachte, mehr, als es mit Worten möglich war.
Doch daß ihr Bruder sie so eingehend betrachtete, mit solch aufrichtigem Interesse, machte sie verlegen. Seine Augen ruhten außergewöhnlich lange auf ihren Lippen, die sanft und feucht waren und gern lächelten.
Und als sein Blick dann von ihrem Kinn über ihren Hals schweifte, schien er auch ihre sanfte Haut zu begutachten, die in hellem Kontrast stand zu dem dunklen Haar und den dunklen Augen, und es sah aus, als überlege er, ob sie wohl über ihren Hals hinaus noch sanft war.
Erin strich sich umständlich einige unsichtbare Falten aus ihrem Wollrock, als seine Blicke weitergingen. Die smaragdgrüne Bluse, die sie unter der Jacke des Kostüms trug, schien ihr plötzlich viel zu eng, ganz besonders, als seine Augen auf der Korallenkette ruhten, die auf ihrer Brust lag. Sie stellte ihre übergeschlagenen Beine nebeneinander, als seine Prüfung ihre Knie bis hin zu den braunen Wildlederpumps einschloß.
Dann schaute er ihr wieder ins Gesicht, stand auf und kam herüber. »Nicht jeder Mann hat das Glück, mit einer Schwester gesegnet zu sein«, stellte er fest, »aber erst in der Mitte des Lebens von der Existenz einer solchen zu erfahren, grenzt an ein Wunder. Und wenn sie dann noch so hübsch ist wie Sie, ist das sogar ein Vergnügen.«
Sie errötete über und über. »Danke, Kenneth«, flüsterte sie glücklich: Er war stolz auf sie! Vielleicht würde dieser Fremde sie mit der Zeit besser kennenlernen und sie sogar mögen – vielleicht könnten sie einander ja sogar lieben lernen.
»Möchten Sie etwas trinken?« Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie nahm sie, ohne zu zögern und ließ sich von ihm von der Couch ziehen. Seine Hand, die sich um ihre Finger schloß, war warm.
»Ja, danke. Das Flugzeug war voll besetzt, und ich war viel zu aufgeregt und zu sehr in Eile, um noch irgendwo anzuhalten unterwegs. Ich hoffe, Sie finden nicht, daß es unhöflich von mir war, einfach hereinzuschneien. Ich
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