Schöne Lügen: Roman (German Edition)
Augen zogen sich ein wenig zusammen, noch immer betrachtete er sie. Nur an einem beinahe unmerklichen Senken des Kinns mit dem Grübchen merkte Erin, daß er genickt hatte.
Sie holte tief Luft. »Ich suche schon seit Jahren nach Ihnen, Kenneth. Ich bin Ihre Schwester.«
Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Sie rührte sich nicht und wartete auf eine Reaktion. Erin hatte sich vorgestellt, daß er aufspringen, auf sie zulaufen und sie in seine Arme
nehmen würde, oder daß er lachen würde, weinen, fluchen, Bestürzung zeigen, doch niemals, daß er einfach sitzen bleiben und sie anstarren würde, als trüge er eine Maske.
Schließlich griff er nach der Brille auf seinem Kopf und nahm sie ab. Er drehte das Gestell in der Hand. »Meine Schwester?« fragte er.
»Ja!« Sie nickte begeistert, und ihre kurzen dunklen Locken hüpften dabei auf und ab. »Ich weiß, es ist unglaublich, aber es stimmt! Darf ich Ihnen erzählen, was ich herausgefunden habe?«
»Bitte.« Er zeigte noch immer keine Gemütsbewegung über ihre Enthüllungen, doch wenigstens reagierte er jetzt. Mehr als alles andere wünschte sie sich, ihn dazu zu bringen, daß er seine Reserviertheit ihr gegenüber aufgab.
»Wir wurden adoptiert, aus einem kleinen katholischen Waisenhaus in Los Angeles. Wußten Sie das?«
»Ungefähr«, antwortete er zurückhaltend.
»Sie sind drei Jahre älter als ich. Unsere Mutter gab uns zur Adoption frei, als ich erst wenige Monate alt war. Ich wurde von einem Ehepaar mit dem Namen O’Shea adoptiert. Kurz darauf zogen sie nach Houston in Texas, wo ich aufwuchs. Erst als ich in die High School kam, begann ich mir Gedanken darüber zu machen, wer ich war und woher ich stammte. Ich denke, das geht allen Heranwachsenden so, aber da ich adoptiert wurde, war es für mich umso wichtiger, meine Wurzeln zu finden, wenn man es so nennen will. Ich bin sicher, Sie verstehen dieses Gefühl.«
»Ja«, sagte er. Er saß lässig auf dem weich gepolsterten Sessel, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Es war eine entspannte Haltung, doch Erin fühlte, daß er diese Sorglosigkeit
vortäuschte. Ihr Bruder konnte sich vielleicht überhaupt nicht entspannen.
»Erst Jahre später war ich endlich in der Lage, finanziell und auch sonst, eine wirkliche Suche nach meiner wahren Identität zu beginnen. Es gibt Organisationen, die adoptierten Kindern helfen, ihre natürlichen Eltern oder verlorene Geschwister zu finden. Glauben Sie mir, inzwischen kenne ich diese Organisationen alle. Ich habe nichts unversucht gelassen. Vor beinah vier Jahren …«
Sie hielt inne, als das rote Telefon auf dem Schreibtisch läutete. Mit der Geschmeidigkeit einer angreifenden Schlange erhob er sich aus dem Sessel und war mit wenigen großen Schritten beim Telefon. Er riß den Hörer hoch und meldete sich mit einem knappen »Ja«. Einen Augenblick lauschte er, dabei ließ er den Blick nicht von Erins erstauntem Gesicht. »Ja. Nein, alles in Ordnung. Wir bleiben in Verbindung.« Er legte den Hörer auf, ging zu seinem Sessel zurück und gab ihr ein Zeichen weiterzusprechen.
Erin war verwirrt durch seine abrupten, zackigen Bewegungen. Sagte man nicht üblicherweise »Entschuldigung«, wenn man einen Anruf beantwortete, während man sich mit jemandem unterhielt? Und warum hatte er sich förmlich auf das Telefon gestürzt, anstatt ein normales Gespräch zu führen? Ein merkwürdiges Verhalten …
»Nun ja, ich …«, stotterte sie. Wo war sie gerade stehen geblieben? Er schien mißtrauisch zu werden, weil sie den Faden verloren hatte.
»Sie sagten gerade: ›Vor beinah vier Jahren …‹«
»Ach ja.« Sie war verunsichert. »Vor beinah vier Jahren begann ich eine ausgedehnte Suche nach unseren leiblichen
Eltern. Meine Adoptivmutter verstand meinen Wunsch, daß ich sie finden wollte, und sie hat mir den Namen des Waisenhauses in Los Angeles genannt, wo man mich betreut hatte. Ich war schrecklich enttäuscht über die Entdeckung, daß es einige Zeit nach unserer Adoption durch ein Feuer zerstört und alle Unterlagen vernichtet worden waren. Das hat mich um Monate zurückgeworfen. Schließlich ist es mir aber gelungen, eine Nonne zu finden, die diesem Waisenhaus angehörte, als wir uns dort aufhielten. Von ihr habe ich zum ersten Mal erfahren, daß ich einen Bruder habe.« Zu ihrem Entsetzen begann ihre Stimme zu zittern, und sie fühlte, wie Tränen in ihre dunklen Augen traten.
»Können Sie verstehen, wie glücklich ich an diesem Tag war? Ich hatte
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