Schöne Neue Welt
atomarer Energie waren, schon Jahre bevor das Buch geschrieben wurde, ein beliebter Gesprächsgegenstand. Ein alter Freund von mir, Robert Nichols, hatte sogar ein erfolgreiches Theaterstück über dieses Thema geschrieben, und ich erinnere mich, daß ich selbst es in einem Roman beiläufig erwähnte, der in den späten zwanziger Jahren veröffentlicht wurde.
Demnach erscheint es, wie ich sagte, sehr befremdlich, daß die Raketen und Hubschrauber des 7. Jahrhunderts Unseres Herrn Ford nicht von zerfallenden Atomkernen angetrieben sein sollten. Dieses Versäumnis ist vielleicht nichtentschuldbar, aber es läßt sich wenigstens leicht erklären.
Das Thema von Schöne neue Welt ist nicht der Fortschritt der Wissenschaft schlechthin,
sondern der Fortschritt der
Wissenschaft insofern, als er den einzelnen Menschen betrifft.
Die Triumphe der Physik, der Chemie und des Maschinenbaus werden stillschweigend vorausgesetzt. Die einzigen
ausdrücklich geschilderten wissenschaftlichen Fortschritte sind solche, welche die Anwendung der Ergebnisse künftiger
biologischer, physiologischer und psyc hologischer Forschung auf die Menschen zum Ziel haben.
Nur mittels der Wissenschaften vom Leben kann die
Beschaffenheit des Lebens von Grund auf verändert werden.
Die Naturwissenschaften lassen sich zwar so anwenden, daß sie Leben vernichten oder das Leben bis zur Unmöglichkeit kompliziert und unbehaglich machen; aber wenn sie nicht vom Biologen und Psychologen als Werkzeuge verwendet werden, können sie nichts dazu beitragen, die natürlichen Formen und Äußerungen des Lebens zu verändern. Die Entfesselung der Atomkraft bedeutet wohl eine große Revolution in der
Menschheitsgeschichte, nicht aber (falls wir nicht selber einander zu Stäubchen zersprengen und so der Geschichte ein Ende machen) die letzte und tiefstgreifende Revolution.
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Diese wirklich revolutionäre Revolution läßt sich nicht in der äußeren Welt bewirken, sondern nur in den Seelen und Körpern der Menschen. Da der Marquis de Sade in einer revolutionären Zeit lebte, machte er selbstverständlich von dieser Theorie der Revolution Gebrauch, um seine besondere Sorte von Wahnsinn zu rationalisieren. Robespierre hatte die oberflächlichste Revolution vollbracht, die politische. Ein wenig tiefer dringend, hatte Babeuf die wirtschaftliche Revolution angestrebt. Sade hielt sich für den Vorkämpfer der wahrhaft revolutionären, über bloße Politik und Volkswirtschaft hinausgehenden Revolution -
der Revolution im einzelnen Menschen, in Mann, Weib und Kind, deren Körper hinfort das gemeinsame sexuelle Eigentum aller werden sollten und deren Gemüter von jedem natürliche n Sittlichkeitsgefühl und von allen im Verlauf der überkommenen Zivilisation mühsam erworbenen Hemmungen entrümpelt
werden sollten. Zwischen Sadismus und der wirklich
revolutionären Revolution besteht natürlich kein notwendiger oder unvermeidlicher Zusammenhang. Sade war ein Verrückter, und das mehr oder weniger bewußte Ziel seiner Revolution waren Chaos und Vernichtung. Die Menschen, welche die
»schöne neue Welt«
regieren, mögen geistig nicht gesund sein (im absoluten Sinn des Wortes); aber sie sind keine Geisteskranken, und ihr Ziel ist nicht Anarchie, sondern soziale Stabilität. Um solche Stabilität zu erzielen, führen sie mit wissenschaftlichen Mitteln die letzte, persönliche, wirklich revolutionäre Revolution durch.
Wir aber befinden uns inzwischen in der ersten Phase dessen, was vielleicht die vorletzte Revolution ist. Ihre nächste Phase mag der Atomkrieg sein, und in diesem Fall brauchen wir uns nicht mit Prophezeiungen über die Zukunft abzugeben.
Immerhin ist es vorstellbar, daß wir vielleicht genug Verstand besitzen, um, wenn schon nicht ganz vom Kriegführen
abzulassen, uns wenigstens so vernünftig zu benehmen wie unsere Vorfahren im 18. Jahrhundert.
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Die unvorstellbaren Greuel des Dreißigjährigen Krieges
waren den Menschen tatsächlich eine Lehre, und mehr als hundert Jahre lang widerstanden hernach die Politiker und Feldherren Europas der Versuchung, ihre militärischen Mittel bis zur Grenze der Zerstörung zu verwenden oder (in der
Mehrheit der Kriegsfälle) weiterzukämpfen, bis der Feind völlig vernicht et war. Natürlich waren sie habgierige und
ruhmsüchtige Aggressoren; aber sie waren auch Konservative, entschlossen, ihre Welt um jeden Preis als betriebsfähiges Unternehmen unversehrt zu lassen. In den letzten dreißig Jahren gab
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