Schöne Neue Welt
rechtfertigen. Und zum Schluß wird ihm natürlich kein anderer Weg gelassen als der Rückzug aus der gesunden Vernunft; sein angeborener Hang zum Büßertum macht sich wieder geltend, und er endet in tobsüchtiger Selbstfolter und verzweifeltem Selbstmord. »Und so lebten sie alle Tage unglücklich und unzufrieden bis an ihr unseliges Ende« - sehr zur Beruhigung des belustigten skeptischen Ästheten, welcher der Verfasser der Fabel war.
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Heute fühle ich nicht den Wunsch, die Unmöglichkeiten
geistiger Gesundheit zu beweisen. Im Gegenteil, wenn ich auch nicht weniger als in der Vergangenheit die betrübliche
Gewißheit hege, daß geistige Gesundheit eine recht seltene Erscheinung ist, so bin ich doch überzeugt, daß sie möglich ist, und sähe sie gern häufiger. Weil ich dies in einigen meiner jüngsten Bücher ausgesprochen und, vor allem, weil ich eine Anthologie dessen zusammengestellt habe,
was die
Vernünftigen über Vernunft und die Mittel, sie zu erlangen, gesagt haben, wurde mir von einem berühmten Wissenschaftler und Kritiker bedeutet, ich sei ein trauriges Beispiel für das Versagen der intellektuellen Schicht in Krisenzeiten; dies, so vermute ich, bedeutet, daß der Professor und seine Kollegen heitere Beispiele des Erfolges sind. Den Wohltätern der
Menschheit gebührt ehrendes Gedenken. Laßt uns ein Pantheon für Professoren baue n! Es sollte sich inmitten der Ruinen einer der ausgebrannten Städte Europas oder Japans erheben, und über den Eingang zu dem Beinhaus würde ich in zwei Meter hohen Buchstaben die schlichten Worte setzen: Geweiht dem
Andenken der Erzieher der Welt. Si Monumentum Requiris
Circumspice. Aber, um zur Zukunft zurückzukehren...
Wollte ich das Buch aufs neue schreiben, böte ich dem
Wilden eine dritte Möglichkeit. Zwischen der utopischen und der primitiven Alternative des Dilemmas läge die Möglichkeit normalen Lebens - bereits einigermaßen verwirklicht in einer Gemeinschaft von Verbannten und Flüchtlingen aus der
»schönen neuen Welt«, die innerhalb einer Reservation leben. In dieser Gemeinschaft wäre die Wirtschaft dezentralistisch und henry- georgeisch, die Politik kropotkinesk und kooperativ.
Naturwissenschaft und Technologie würden benutzt, als wären sie, wie der Sabbath, für den Menschen gemacht, nicht, als solle der Mensch (wie gegenwärtig und noch mehr in der »schönen neuen Welt«) ihnen angepaßt und unterworfen werden.
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Religion wäre das bewußte und verständige Streben nach dem höchsten Ziel des Menschen, nach der einenden Erkenntnis des immanenten Tao oder Logos, der transzendenten Gottheit oder des Brahman. Und die vorherrschende Lebensphilosophie wäre eine Art von höherem Utilitarismus, worin das Prinzip des größten Glücks dem des höchsten Zwecks untergeordnet ist -
denn die erste, in jeder Lebenslage zu stellende und zu beantwortende Frage hieße: »Inwieweit würde dieser Gedanke oder diese Handlung fördern oder hindern, daß ich und die größtmögliche Zahl anderer das höchste Ziel des Menschen erreichen?«..... Unter Primitiven aufgezogen, würde der Wilde (in dieser hypothetischen neuen Fassung des Buches) nicht nach Utopia verpflanzt werden, bevor er nicht Gelegenheit gehabt hätte, aus erster Hand etwas über das Wesen einer Gesellschaft zu erfahren, die aus frei zusammenwirkenden und nach
Geistesgesundheit strebenden Individuen besteht. So verändert, besäße Schöne neue Welt eine künstlerische und (wenn es erlaubt ist, ein so großes Wort in Verbindung mit einem Werk der schöngeistigen Literatur zu verwenden) philosophische Vollkommenheit, an der es dem Buch in seiner gegenwärtigen Form ersichtlich mangelt.
Aber Schöne neue Welt ist ein Buch über die Zukunft, und ein solches Buch,
was immer seine künstlerischen und
philosophischen Qualitäten sein mögen, vermag uns nur zu interessieren, wenn seine Prophezeiungen so aussehen, als könnten sie Wirklichkeit werden. Von unserem gegenwärtigen Aussichtspunkt - fünfzehn Jahre weiter unten auf der schiefen Ebene der Geschichte der Neuzeit -, wie wahrscheinlich erscheinen da seine Voraussagen? Was ist in der
schmerzensreichen Zwischenzeit geschehen,
was die
Prophezeiungen aus dem Jahr 1931 bestätigen oder widerlegen könnte?
Der eine gewaltige und unverkennbare Mangel an Voraussicht wird sogleich offenbar. Schöne neue Welt enthält keine
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Anspielung auf die Kernspaltung. Das ist wirklich sehr
befremdlich; denn die Möglichkeiten
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