Schöne Neue Welt
Unterlassung erreicht. Groß ist die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, ist das Verschweigen der Wahrheit. Indem totalitäre Propagandisten gewisse Dinge
einfach nicht erwähnten, indem sie einen - wie Churchill es nannte - »eisernen Vorhang« herabließen zwischen den Massen und solchen Sachverhalten oder Argumenten, die von den
politischen Machthabern für unerwünscht gehalten wurden, beeinflußten sie die öffentliche Meinung viel wirksamer, als sie es durch die beredsamsten Anklagen, die zwingendsten
logischen Widerlegungen hätten tun können. Aber Schweigen ist nicht genug. Wenn Verfolgungen, Liquidierungen und andere Zeichen sozialer Reibung vermieden werden sollen, müssen die positiven Seiten der Propaganda genauso erfolgreic h eingesetzt werden wie die negativen. Die wichtigsten »Manhattan-Projekte« der Zukunft werden umfangreiche, von der Regierung
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geförderte Untersuchungen dessen sein, was die Politiker und die beteiligten Wissenschaftler »das Problem des Glücks«
nennen werden - mit anderen Worten, das Problem, wie man Menschen dahin bringt, ihr Sklaventum zu lieben. Ohne
wirtschaftliche Sicherheit kann die Liebe zur Sklaverei
unmöglich entstehen; der Kürze halber nehme ich an, daß es der allmächtigen Exekutive und ihren Mana gern gelingen wird, das Problem dauerhafter wirtschaftlicher Sicherheit zu lösen.
Sicherheit wird aber fast immer sehr schnell für
selbstverständlich gehalten. Sie zu erreichen, ist bloß eine oberflächliche, äußere Revolution. Die Liebe zur Sklaverei kann nicht fest verankert werden, solange sie nicht das Ergebnis einer tiefgehenden persönlichen Revolution in den Gemütern und Leibern der Menschen ist. Um diese herbeizuführen, bedarf es unter anderem folgender Entdeckungen und Erfindungen:
erstens einer sehr verbesserten Methode der Suggestion - durch Konditionieren des Kleinkindes und später, durch die Hilfe von Medikamenten wie Skopolamin; zweitens einer voll
entwickelten Wissenschaft der Unterschiede zwischen
Menschen, die es den von der Regierung bestellten Managern ermöglicht, jedem beliebigen Individuum seinen oder ihren Platz in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Rangordnung anzuweisen (kantige Pflöcke in runden Löchern zeitigen gefährliche Gedanken über das Gesellschaftssystem und stecken leic ht andere mit ihrer Unzufriedenheit an); drittens (da die Wirklichkeit, wenn auch noch so utopisch, die Menschen die Notwendigkeit empfinden läßt, recht häufig Urlaub von ihr zu nehmen) bedarf es eines Ersatzes für Alkohol und die anderen Rauschmittel, etwas, das zugleich weniger schadet und mehr Genuß bringt als Branntwein oder Heroin; und viertens (aber das wäre ein Langzeitprojekt, das zu seinem erfolgreichen Abschluß Generationen totalitärer Herrschaft erfordern würde) eines betriebssicheren Systems der Eugenik, darauf berechnet, das Menschenmaterial zu normen und so die Aufgabe der Manager
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zu erleichtern. In Schöne neue Welt ist diese Normung des menschlichen Produkts bis zu phantastischen, wenngleich vielleicht nicht unmöglichen Extremen getrieben. Technisch und ideologisch haben wir noch einen weiten Weg bis zu Kindern in Flaschen und Bokanowskygruppen von Halbidioten. Doch um
das Jahr 600 n. F. - wer weiß, was bis dahin nicht alles geschehen mag? Inzwischen sind die anderen charakteristischen Züge dieser glücklicheren und beständigeren Welt - die
Äquivalente für Soma und Hypnopädie und das wissenschaftlich ausgearbeitete Kastensystem - wahrscheinlich nur noch drei oder vier Generationen von uns entfernt.
Auch scheint die sexuelle Promiskuität der Schönen neuen Welt nicht gar so weit von uns zu liegen. Es gibt bereits gewisse amerikanische Städte, in welchen die Zahl der Scheidungen die der Heiraten erreicht. In einigen Jahren werden Trauscheine zweifellos verkauft werden wie Hundemarken: gültig für zwölf Monate, wobei kein Gesetz das Wechseln der Hunde oder das gleichzeitige Halten mehr als eines Hundes verbietet. Je mehr sich politische und wirtschaftliche Freiheit verringern, desto mehr pflegt die sexuelle Freiheit sich kompensatorisch
auszuweiten. Und der Diktator (falls er nicht Kanonenfutter braucht und kinderreiche Familien, um mit ihnen noch
unbesiedelte oder zu erobernde Gebiete zu kolonialisieren) wird gut daran tun, diese Freiheit zu fördern. In Verbindung mit der Freiheit des Tagträumens unter dem Einfluß von Rauschmitteln, Filmen und Rundfunk wird die
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