Schöne Neue Welt
in der Wand drückte, den Bildern, die man nicht nur sehen, sondern auch hören und fühlen konnte, und einem anderen Kästchen, mit dem man wunderbare Düfte machen
konnte: von den rosanen, grünen, blauen und silbernen Häusern, die so hoch wie die Berge waren, und von den allzeit
glücklichen Menschen, die niemals traurig oder zornig waren.
Sie erzählte ihm, daß jeder seines Nächsten Eigentum sei, beschrieb die Dinger, mit denen man sehen und hören konnte, was am anderen Ende der Welt vorging. Die Babys in den
hübschen, sauberen Flaschen, alles so rein, kein Gestank, kein Schmutz, keine Einsamkeit unter den Menschen, alle lebten miteinander und waren froh und glücklich wie das Volk hier in
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Malpais bei den Sommertänzen, nur viel glücklicher, ein Glück, das alle Tage anhielt, alle Tage... Stundenlang lauschte er.
Manchmal, wenn er und die anderen Kinder vom Spiel müde
waren, erzählte ihnen einer der Greise in seiner Sprache vom Großen Verwandler der Welt und von dem langen Kampf
zwischen Rechterhand und Linkerhand und zwischen Naß und Trocken; von Awonawilona, dessen Nachtgedanken einen
großen Nebel zeugten und der dann die ganze Welt aus diesem Nebel schuf; von Mutter Erde und Vater Himmel; von Ahaiyuta und Marsailema, den Zwillingsbrüdern Krieg und Zufall; von Jesus und Pukong; von Maria und Etsanatlehi, der ewig
Jungbleibenden; vom Schwarzen Stein von Laguna und dem
Großen Adler und Unserer Lieben Frau von Acoma. Seltsame Geschichten, doppelt wundersam, weil sie in der anderen Sprache erzählt und von ihm daher nicht ganz verstanden
wurden.
Daheim im Bett dachte er an den Himmel und an Berlin und Unsere Liebe Frau von Acoma und die unzähligen Reihen von Babys in sauberen Flaschen und an Jesu Flug in den Himmel und an Filines Flug in den Himmel und an den großen Welt-Brutdirektor und Awonawilona.
Viele Männer besuchten Filine. Die Jungen begannen mit dem Finger auf ihn zu zeigen. In ihrer fremden Sprache schrien sie, daß Filine schlecht sei, gaben ihr Namen, die er nicht verstand, von denen er aber wußte, daß sie Schimpfnamen waren. Eines Tages sangen sie ein Lied auf Filine, sangen es immer wieder.
Er warf Steine nach ihnen. Sie warfen zurück; ein spitzer Stein traf ihn an der Wange. Das Blut wollte nicht aufhören zu fließen, er war von oben bis unten besudelt.
Filine brachte ihm Lesen bei. Mit einem Stück Holzkohle
zeichnete sie Bilder an die Wand: ein langgeschwänztes
Tierchen, das aus einem kleinen Haus hervorkam; ein Kästchen, von dem Wellenlinien ausgingen. Darunter schrieb sie
Buchstaben: »Die Maus kommt aus dem Haus. Der Ton kommt
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aus dem Fon.« Er lernte schnell und leicht. Als er alle Wörter an der Wand lesen konnte, öffnete Filine ihre große Holztruhe und zog unter der komischen roten Hose, die sie niemals trug, ein dünnes Büchlein hervor. Er hatte es schon oft gesehen. »Wenn du größer bist, darfst du es lesen«, hatte sie gesagt. Jetzt war er groß genug. Er war sehr stolz. »Leider wirst du es nicht sehr spannend finden«, bemerkte sie, »aber ich habe kein anderes.«
Sie seufzte. »Wenn du die schönen Lesemaschinen bei uns in Berlin sehen könntest!«
Er begann zu lesen. »Leitfaden der chemischen und
bakteriologischen Normung des Embryos. Praktische Winke für Beta-Laboranten der Embryonendepots.« Eine Viertelstunde brauchte er allein zur Entzifferung des Titels. Er warf das Buch zu Boden. »Böses, böses Buch«, rief er und brach in Tränen aus.
Die Jungen sangen auch weiterhin ihr schreckliches Spottlied auf Filine. Manchmal verhöhnten sie ihn auch wegen seiner Lumpen. Filine verstand sich nicht darauf, die Löcher, die er in seine Kleider riß, zu flicken. In der Anderen Welt, belehrte sie ihn, warf man zerrissene Kleider weg und kaufte neue.
»Lumpenbankert, Lumpenbankert!« schrien ihm die Jungen
nach. »Dafür kann ich lesen«, tröstete er sich, »und sie wissen nicht einmal, was Lesen heißt.« Wenn er angestrengt ans Lesen dachte, fiel es ihm ganz leicht, so zu tun, als machte er sich nichts aus ihrem Spott. Er verlangte wieder das kleine Buch von Filine.
Je öfter die Jungen mit dem Finger auf ihn zeigten und ihn verhöhnten, desto emsiger las er. Bald konnte er sogar die längsten Wörter ganz gut lesen. Aber was bedeuteten sie? Er fragte Filine, doch auch wenn sie eine Antwort wußte, wurde ihm der Sinn nicht wirklich klar. Meist konnte sie ihm sowieso nicht antworten.
»Was sind Chemikalien?« fragte er
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