Schöne neue Welt
vierhunderterste. Die Sexofone jaulten melodisch wie sangesfrohe Katzen im Mondschein und stießen klagende hohe und tiefe Töne aus, als wollten sie vor Lust ersterben. Mit einer Überfülle von Harmonien schwoll ihr bebender Chor zum Höhepunkt an, wurde lauter, immerlauter, bis endlich der Kapellmeister mit einem Wink die Äthermusik des erschütternden Schlußakkords entfesselte und die sechzehn Trompeter aus Fleisch und Blut glatt aus dem Dasein strich. Donner in As-Dur. Und dann, bei fast völliger Stille, in fast völliger Finsternis, folgte ein allmähliches Abschwellen, ein Diminuendo, das durch Vierteltöne tiefer und tiefer zu einem hingewisperten, lang anhaltenden Akkord hinabsank, während der Fünfviertelrhythmus darunter weiter pochte und die sekundenlange Dunkelheit mit angespanntester Erwartung lud.
Plötzlich explodierte ein Sonnenaufgang, und zugleich brachen die Sechzehn in Gesang aus: Von dir, mein Fläschchen, träum ich Tag und Nacht.
Warum hat man dich jemals Aufgemacht?
Der Himmel war blau, Das Klima so lau, Ich kenn keinen einzigen Ort, Der mir besser gefällt Als du, mein allersüßestes Fläschchen der Welt.
Zusammen mit vierhundert anderen Paaren bewegten sich Lenina und Henry immer und immer wieder durch die Dom-Diele. Aber sie waren in eine andere Welt entrückt, in die durchglühte, farbenfrohe, unendlich freundliche Welt des Somarausches. Wie nett, wie schön und hinreißend unterhaltsam alle Menschen zu sein schienen!
»Von dir, mein Fläschchen, träum ich - « Aber Lenina und Henry hatten schon, wovon sie geträumt. Sie fühlten sich geborgen, jetzt und hier, geborgen in lauem Klima, unter zeitlos blauem Himmel. Als die sechzehn Sexofonisten endlich erschöpft ihre Instrumente weglegten und das Synthetofon den allerneuesten Verhütungsfreudenwalzer brachte, glichen sie Zwillingsembryos, die sanft miteinander auf den Wogen eines in eine Flasche abgefüllten Ozeans von Blutsurrogat schaukelten.
»Gute Nacht, liebe Freunde! Gute Nacht, liebe Freunde!« Die Lautsprecher verbargen ihren Befehl hinter herzlicher melodiöser Höflichkeit. »Gute Nacht...«
Gehorsam wie alle anderen verließen Lenina und Henry das Gebäude. Die bedrückenden Sterne waren ein tüchtiges Stück über den Himmel gewandert. Und obgleich der schützende Schirm von Lichtreklamen zum größten Teil verschwunden war, blieb dem jungen Paar auch weiter seine selige Unkenntnis der Nacht.
Eine zweite Dosis Soma, eine halbe Stunde vor Schließung der Dom-Diele eingenommen, hatte eine undurchdringliche Mauer zwischen der rauhen Wirklichkeit und ihren Gemütern aufgerichtet. In einer Flasche verkorkt, überquerten sie die Straße; verkorkt fuhren sie mit dem Aufzug in Henrys Wohnung im achtundzwanzigsten Stockwerk hinauf. Aber obwohl Lenina verkorkt war, trotz dem zweiten Gramm Soma, vergaß sie doch nicht den vorschriftsmäßigen Empfängnisschutz. Jahrelanger gründlicher Schlafschulunterricht und malthusischer Drill dreimal die Woche vom zwölften bis siebzehnten Lebensjahr machten die Anwendungen dieser Mittel fast zu einer unwillkürlichen, unvermeidlichen Reflexbewegung, wie Blinzeln.
»Ach, da fällt mir etwas ein, Henr y«, sagte sie, als sie aus dem Badezimmer zurückkam. »Stinni Braun läßt dich fragen, wo du diesen reizenden Patronengürtel aus grünem Saffianersatz für mich besorgt hast.«
Jeden zweiten Donnerstagabend hatte Sigmund zur Eintrachtsandacht zu gehen. Sie speisten ziemlich zeitig im Eldoradoklub - Helmholtz war vor kurzem dort gemäß Paragraph zwei der Vereinssatzungen zum Mitglied gewählt worden -, dann verabschiedete er sich von seinem Freund, winkte auf dem Dach einem Taxikopter und ließ sich zu der Fordson-Vereinigungssinghalle fliegen. Der Taxikopter stieg ein paar hundert Meter auf, wandte sich nordwestwärts, und schon lag vor Sigmunds Augen, gigantisch schön, die Singhalle. Lichtüberflutet strahlte der dreihundertzwanzig Meter lange Bau aus weißem Carraramarmorersatz mit schneeiger Glut über Kurärztedamm und Zoo. An jeder der vier Ecken der Landungsflächen ragte ein purpurn leuchtendes T in die Nacht. Aus den Trichtern von vierundzwanzig riesigen goldenen Trompeten donnerte feierliche synthetische Musik.
»Verflucht, ich komme spät!« sagte sich Sigmund mit einem besorgten Blick auf den Großen Henry, die Singhallenturmuhr. Und während er den Taxikopter entlohnte, verkündete der Große Henry auch wirklich schon, wieviel es geschlagen hatte. »Ford«, sang ein
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