Schöne neue Welt
Bedeutenderes, Leidenschaftlicheres, Wirkungsvolleres leisten. Aber was? Was gibt es Bedeutungsvolleres zu sagen? Und wie kann man bei unseren herkömmlichen Themen Leidenschaft entwickeln? Worte können Röntgenstrahlen gleichen, wenn man sie richtig anwendet, können alles durchdringen. Man liest und ist durchdrungen. Das versuche ich immer, meinen Studenten beizubringen. Wie schreibe ich durchdringend? Aber wozu in aller Welt ist es gut, von einem Artikel über einen Vereinigungschor oder über die neuesten Verbesserungen des Duftorgelbaus durchdrungen zu sein? Können denn überhaupt Worte durchdringend wie die stärksten Röntgenstrahlen sein, wenn man über solche Dinge schreibt? Kann man etwas über nichts sagen? Darauf läuft am Ende alles hinaus. Ich versuche und versuche...«
»Pst!« machte Sigmund plötzlich und hob warnend den Finger. Sie lauschten. »Ich glaube, jemand steht vor der Tür«, flüsterte er.
Helmholtz erhob sich, schlich auf Zehenspitzen durchs Zimmer und stieß mit einem Ruck die Tür auf. Natürlich weit und breit kein Mensch.
»Entschuldige!« sagte Sigmund, der sich qualvoll töric ht vorkam und auch so aussah. »Ich glaube, meine Nerven sind nicht ganz in Ordnung. Wenn man von den Menschen immer beargwöhnt wird, muß man schließlich selber argwöhnisch werden.«
Seufzend fuhr er sich über die Augen, seine Stimme wurde klagend. »Wenn du wüßtest, was ich in letzter Zeit durchgemacht habe!« sagte er fast unter Tränen. Selbstmitleid quoll in ihm hoch wie das Wasser in einem plötzlich aufgedrehten Springbrunnen. »Wenn du nur wüßtest!«
Helmholtz Holmes-Watson hörte ein wenig unbehaglich zu. »Armer kleiner Sigmund!« dachte er. Dabei konnte er aber eine gewisse Scham für seinen Freund nicht unterdrücken. Wenn Sigmund nur ein bißchen mehr Stolz besäße!
Fünftes Kapitel
Gegen acht Uhr begann es zu dunkeln. Die Lautsprecher auf dem Turm des Golfklubs Döberitz verkündeten mit übermenschlicher Stimme das Ende der Spielzeit. Lenina und Henry brachen ihr Spiel ab und gingen ins Klubhaus zurück. Vom Gelände des Innen- und Außensekretet-Trusts drang das Gebrüll der vielen tausend Rinder herüber, die mit ihren Hormonen und ihrer Milch das Rohmaterial für die große Fabrik in Seegefeld lieferten.
Die Dämmerung war vom unaufhörlichen Gesumm der Helikopter erfüllt. Alle zweieinhalb Minuten meldeten ein Glockensignal und das Schrillen von Pfeifen die Abfahrt eines der leichten Einschienenzüge, die die Golfspieler der niederen Kasten von ihren eigens abgetrennten Plätzen in die Stadt zurückbeförderten.
Lenina und Henry stiegen in ihren Hubschrauber und flogen ab. In dreihundert Meter Höhe drosselte er den Motor, und ein, zwei Minuten lang schwebten sie nun ruhig über die verblassende Landschaft. In den Havelseen spiegelte sich glitzernd der lichte Westhimmel. Der letzte Purpurschein des Sonnenuntergangs über dem Horizont verblich ins Orangefarbene und höher hinauf ins Gelbe und wässerige Grün. Im Norden funkelten hinter den Bäumen sämtliche Fenster in den zwanzig Stockwerken der Innen- und Außensekretefabrik in grellem elektrischen Glanz.
Genau unter ihnen lagen die Gebäude des Golfklubs, die ausgedehnten Baracken fü r die niederen Kasten und, jenseits einer trennenden Mauer, die kleineren Häuser für Alpha- und Beta-Mitglieder. Die Zugänge zur Einschienenstation waren schwarz vom ameisenhaften, hastigen Gewimmel der niederen Kasten. Aus der gläsernen Abfahrtshalle schoß ein beleuchteter Zug ins Freie. Als sie ihm mit ihren Blicken auf seiner Fahrt in die nächtliche Ebene folgten, sahen sie den majestätischen Bau des Spandauer Krematoriums. Zum Schutz der Flugzeuge wurden die vier hohen Schornsteine mit den scharlachroten Warnsignalen an der Spitze nachts angestrahlt. Es war ein Wahrzeichen der Gegend.
»Warum haben die Schlote diese balkonartigen Dinger rundherum?« erkundigte sich Lenina.
»Phosphorwiedergewinnung«, erklärte Henry im Telegrammstil. »Auf ihrem Weg durch den Schornstein werden die Gase vier verschiedenen Verfahren unterzogen.
Bei jeder Leichenverbrennung ging früher Phosphorpentoxyd dem Umlauf verloren. Heute werden mehr als achtundneunzig Prozent davon wiedergewonnen. Über anderthalb Kilogramm von dem Leichnam eines Erwachsenen. Also nahezu sechshundert Tonnen Phosphor jährlich allein in Deutschland.« Er sprach mit fröhlichem Stolz und von Herzen begeistert über diese Errungenschaft, als hätte er persönlich
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